Anfang des Dilemmas

Die Koalitionsverhandlungen in der DDR haben begonnen  ■ K O M M E N T A R

Die neue Demokratie DDR beginnt nun mit der guten alten Kunst des Krötenschluckens. Die SPD ist in die Verhandlung über eine große Koalition eingetreten und wird die Kröte DSU um so schneller schlucken müssen, je mehr die Sachfragen zwischen CDU und SPD geklärt werden. Es wird eine Koalitionsregierung von Kanzlers Gnaden sein, auch wenn man gewiß nicht unterstellen darf, daß die SPD in die Koalition geht, weil Kohl schon am Tag nach der Wahl öffentlich für sie eintrat. Das Entstehen der Koalition demonstriert vielmehr exemplarisch, mit welchen Paradoxien jetzt und in nächster Zukunft eine gesamtdeutsche Innenpolitik gemacht werden wird.

Der Bundeskanzler setzte auf die große Koalition, weil er bei den unverzüglich anlaufenden Verhandlungsrunden verständlicherweise die Garantie haben wollte, daß der Verhandlungspartner DDR-Regierung über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. Eine SPD in der Opposition, d.h. ein Minderheitskabinett „Allianz für Deutschland“, hätte jedes Verhandlungsergebnis einer Volkskammerdebatte unterworfen mit zweifelhaftem Abstimmungserfolg. Der Kontrahent der Bundesregierung wäre dann das Parlament gewesen, das in diesem Konflikt politisch gewachsen wäre. Im Zweifelsfalle wäre es den Oppositionsparteien nicht schwergefallen, die Allianz-Regierung als Erfüllungsgehilfen eines bundesdeutschen Diktats hinzustellen.

Die SPD schreckte wiederum die Rolle, zusammen mit der PDS als Bremser der deutschen Einheit in Verruf zu kommen. Zudem, sie konnte die epochale Gestaltungschance nicht vorbeigehen lassen. Je mehr Kohl die Politik des Kassenverwalters machte, wie jetzt beim Tauschkurs 2:1, je mehr also er die CDU-Ost brüskierte, desto mehr trieb er die „Schwesterpartei“ in eine begrenzte politische Autonomie gegenüber Bonn, die für die SPD den Schritt zur Koalition erleichterte. So hat die Bundesregierung jetzt einen Verhandlungspartner, der sich auf einen breiten Konsens und eine sichere Mehrheit berufen kann und mithin mehr sein wird, als bloßes Instrument für eine deutsche Vereinigung nach Bonner Fahrplan. Die DSU wird dabei sein, ohne über großen politischen Spielraum zu verfügen. Mit anderen Worten: Die Chancen einer Vertretung von DDR-Interessen haben sich erhöht; die Chancen für einen DDR -Parlamentarismus allerdings haben sich im gleichen Maßstabe verringert.

Allerdings steht die künftige große Koalition unter unvergleichbaren historisch ungewöhnlichen Ansprüchen, die vor allem die SPD betreffen. Immerhin repräsentiert die SPD den Prozeß der Demokratisierung im Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Sie hat nicht nur, wie die Allianz-Vertreter, nolens volens am Runden Tisch mitgemacht, sie war in bestimmten Fragen aktiv. Sie hat zusammen mit dem Wahlbündnis 90 vehement die Verteilung des Volkseigentums auf die DDR-Bürger vertreten - ein politisches Ziel, das im Westen bestenfalls unwilliges Kopfschütteln hervorrief. Sie hat auch bei der Ausarbeitung der Verfassung mitgemacht. Hier gibt es eine zwar kurze, aber nichtsdestoweniger verpflichtende demokratische Tradition. Die politische Integrität der künftigen DDR-Regierung wird nicht nur davon abhängen, wie konsequent das Kabinett de Maziere die Interessen auf soziale Sicherung der DDR-Bürger gegenüber Bonn vertreten wird; die politische Integrität der SPD wird nicht davon abhängen, wieviel Programmpunkte und Ministerposten sie in diesem Kabinett erobert. Es wird vor allem auch darum gehen, was diese Regierung mit dem Vermächtnis des Runden Tischs machen wird. Die wirkliche DDR -Opposition hat in der künftigen Volkskammer Fraktionsstärke und Initiativrecht; sie wird die Arbeit des Runden Tisches in die Volkskammer einbringen. Die Allianzparteien sind erklärte Gegner der Politik des Runden Tischs. Für die SPD wird die Alternative fortbestehen, sich Schritt für Schritt von der kurzen Geschichte der Demokratisierung loszusagen oder die Koalition in Frage zu stellen.

Klaus Hartung