Schmücker-Prozeß: Justizgeschichte ohne Ende

Der Schmücker-Prozeß geht heute vor dem Kriminalgericht Moabit in die vierte Runde / Der Fememord an dem Berliner Studenten Schmücker beschäftigt die Berliner Justiz seit 14 Jahren / Der schon jetzt längste Prozeß der deutschen Justizgeschichte könnte sich aber wiederum im Netz des Verfassungsschutzes verheddern  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Wenn am heutigen Mittwoch der Justizwachtmeister des Kriminalgerichts Moabit mit einem routinierten „Im Verfahren gegen Schwipper und andere, die Prozeßbeteiligten bitte!“ in den Saal 700 lädt, dann beginnt in Berlin die vierte Runde des bisher längsten und wohl auch skandalumwittertsten Prozesses der bundesdeutschen Justizgeschichte. Zur Verhandlung steht ein unauflösliches Knäuel von politischen und juristischen Skandalen und Verwicklungen, das schon jetzt für sämtliche Verfahrensbeteiligten ein Alptraum ist.

Der Alptraum begann im Juni 1974, als der junge Student Ulrich Schmücker nachts erschossen im Berliner Grunewald aufgefunden wird. Wenig später bekennt sich ein „Kommando Schwarzer Juni“ zur Exekution des „Verräters“ Schmückers. Schmücker - soviel ist mittlerweile gerichtlich erwiesen war vor seiner Ermordung als Informant des Verfassungsschutzes in der linken Szene enttarnt worden. Des Mordes beschuldigt werden etliche Monate später sechs Mitglieder einer Wolfsburger Kommune rund um die heute 52jährige Hauptangeklagte Ilse Schwipper.

Schon dreimal haben sich in den letzten vierzehn Jahren unterschiedliche Kammern des Berliner Landgerichts die Zähne an diesem Prozeß ausgebissen. Die Verfahrensdauer wurde von mal zu mal länger - mehr als 500 Verhandlungstage zählt man mittlerweile -, und am Ende stand bisher immer ein „schuldig“ für die fünf Angeklagten und ein „lebenslänglich“ für die Hauptbeschuldigte Ilse Schwipper.

Mit derselben Regelmäßigkeit hob aber auch der Bundesgerichtshof die Schuldsprüche wegen gravierender Verfahrensmängel wieder auf, sodaß es heute zum vierten Prozeßdurchlauf kommt. Und immer monierten die Revisionsrichter des BGH, was bisher kein Gericht aufklären wollte und konnte: die undurchsichtige Rolle des Berliner Verfassungsschutzes bei der Ermordung seines Spitzels Schmücker.

15 Anwälte seit 10 Jahren

im Full-time-Job

Ginge es nicht um Mord und stünde nicht eine lebenslange Freiheitsstrafe auf dem Spiel - die vierte Neuauflage des Schmücker-Prozesses wäre schon jetzt als Justizposse „Oscar“ -verdächtig: Verhandelt wird vor einem Jugendgericht gegen fünf Angeklagte, die allesamt über 30 Jahre alt sind und teilweise selber schon erwachsene Kinder haben. Zu Gericht sitzen Richter und Schöffen, die sich durch meterdicke Aktenberge durchfressen müssen, von denen jeder weiß, daß sie nur die Spitze eines Eisbergs sind.

Auf der Verteidigerbank mühen sich 15 Rechtsanwälte, für die dieses Verfahren seit mehr als zehn Jahren beinahe ein Full-time-Job ist. Einst gefertigte Oduktionsbefunde des Mordopfers Schmücker müssen erneut in Auftrag gegeben werden, weil ihre Gutachter inzwischen selbst verstorben sind.

Verfahrenskosten liegen bei über zehn Millionen Mark

Die Verfahrenskosten haben schon jetzt die Zehn-Millionen -Grenze überschritten, und neue Finanzrekorde sind zu erwarten, denn mögliche Zeugen sind von Hawai bis Australien über alle Welt gestreut. Nur: die wichtigsten Zeugen des Verfahrens wird man nie vor der Richterbank sehen. Sie werden vom Berliner Verfassungsschutz weiter unter „Verschluß“ gehalten oder sind - wie der ehemalige V-Mann -Führer Schmückers, Michael Grünhagen - über die vierzehnjährige Verfahrensdauer verstorben. Und so ist es schon bei Prozeßbeginn höchst fraglich, ob es am Ende dieses absurden Mammutverfahrens jemals ein hieb- und stichfestes Urteil geben wird, das einer weiteren Revision standhalten kann.

Auf den ersten Blick haben die RichterInnen der 18.Strafkammer dieses Mal bessere Chancen, Licht in das Verfassungsschutzgestrüpp um den Mordfall Schmücker zu bringen: Bisher verborgene Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Berliner Verfassungsschutzes sollen erstmals offengelegt werden, und eine vom rot-grünen Berliner Senat eigens eingerichtete Prüfgruppe und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß haben kräftig in den „Giftschränken“ der Geheimdienstler geforstet.

Und schließlich ist auch die vermeintliche Tatwaffe im Mordfall Schmücker nach mehr als zehn Jahren an überraschendem Ort aufgetaucht: im Panzerschrank des Berliner Verfassungsschutzes.

Die Tatwaffe lag im

Panzerschrank des VS

Aber all diese neuen Materialien haben auch neue Verwirrung geschaffen: So ist inzwischen fraglich geworden, ob die jahrelang verborgene Tatwaffe, eine alte verrostete Pistole, wirklich die tödliche Waffe war. Denn die Unterlagen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses förderten zutage, daß eine der schillerndsten Figuren des Verfahrens, der ehemalige politische Mitstreiter der Angeklagten und spätere Hauptbelastungszeuge, Jürgen Bodeux, zur Tatzeit ebenfalls im Besitz einer Waffe desselben Kalibers war. Und die war im Gegensatz zur rostigen Knarre der Angeklagten - vollauf funktionsfähig. Auch die Aktenberge, die den ParlamentarierInnen aus den Beständen des Verfassungsschutzes übergeben wurden, hinterließen mehr Fragen als Antworten. Seitenweise entdeckten die Ausschußmitglieder gewaltige Lücken in der Aktenführung „Fehlblätter“, die aus dubiosen Gründen geheimgehalten werden.

Immer mehr verdichtete sich bei den Recherchen des Untersuchungsausschusses auch der Verdacht, daß der Berliner Verfassungsschutz beim Mord an Schmücker heimlich im Gebüsch gestanden hat und den jungen Studenten als Lockvogel in eine tödliche Situation schickte.

So hatte der Leiter des Berliner Verfassungsschutzes, Natusch, für den Tattag eine Observation der späteren Angeklagten angeordnet, von deren vermeintlichen Racheplänen gegen Schmücker man wußte. Die Beschattung soll dann aber aus unerfindlichen Gründen kurz vor der Tat abgebrochen worden sein.

Die V-Männer werden

nicht erscheienen

Hauptfrage in dem kommenden Prozeßdurchlauf wird jedoch sein, ob die beiden inzwischen als V-Männer enttarnten Zeugen Christian Hain und Volker von Weingraber zu dem Prozeß erscheinen. Hain, der bis vor wenigen Monaten als Spitzel mit dem Tarnnamen „Flach“ unentdeckt in der linken Szene agierte, hatte als guter Freund der Hauptangeklagten Ilse Schwipper unter anderem die Prozeßvorbereitung ihres Verteidigers Heinisch ausspioniert. Volker von Weingraber, als V-Mann „Wien“ beim Berliner Verfasssungsschutz mit hohen Gagen belohnt, will die Vorbereitungen für den Mord an Schmücker bis ins Detail beobachtet haben. Er will unmittelbar nach der Tat sogar die Mordwaffe von einem der Angeklagten in Empfang genommen haben. V-Mann Hain soll inzwischen seine prinzipielle Bereitschaft zur Zeugenaussage erklärt haben. Allerdings nur, wenn die an einem „gesicherten Ort“ stattfindet. Der Hauptbelastungszeuge Weingraber jedoch wird - davon kann man jetzt schon ausgehen - vor Gericht nicht erscheinen.

Auch der Verfassungsschutz hat signalisiert, er werde wenig Energie dareinsetzen, den Schützling dem Gericht zuzuführen. Denn der ehemalige Top-Mann des VS - so führt auch der Bundesgerichtshof in seiner letzten Revisionsbegründung aus

-steht selber in dem Verdacht, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein.

Taucht Weingraber aber nicht auf, dann hätte das Gericht einen sehr gewichtigen Grund mehr, den gesamten Schmücker -Prozeß wegen der Unerreichbarkeit wichtiger Beweismittel und Zeugen vorzeitig mit einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung zu beenden. Bevor man jedoch in dem Prozeßablauf zu diesem entscheidenden Verhandlungspunkt kommt, könnten Jahre vergehen.

„Open end“ lautet deshalb auch übereinstimmend bei Verteidigung und Justiz die Antwort auf die Frage, wie lange voraussichtlich der vierte Durchgang des Schmücker-Prozesses dauern wird. Richter und Staatsanwälte sind jedenfalls für unbegrenzte Zeit von anderen Aufgaben freigestellt. Und wie es die Absurdität nun einmal will: Ausgerechnet in diesem Mammutverfahren wählte Kommissar Zufall drei Schöffen aus, die schon jetzt im Rentenalter sind. Sollten sie das Prozeßende überhaupt erleben, wird man sie zu einem gesegneten Alter beglückwünschen dürfen. Darüber hinaus könnte der vierte Durchlauf des Prozesses schon unterbrochen sein, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Wenn die 15 Verteidiger gleich am ersten Tag einen Aussetzungsantrag stellen, weil - wieder einmal - wichtige Akten nicht auf dem Tisch liegen.