Schnupfen, VizepräsidentInnen und andere Katastrophen

■ Ostberliner Stadtverordnete kamen ins Abgeordnetenhaus, um der richtigen Demokratie zuzugucken - und erlebten Staatstheater vom Kennedyplatz in seiner berühmten Hochform / Bericht von einer historischen Stunde

Es sollte doch eine besonders schöne Sitzung werden, die gestrige Plenarsitzung im Abgeordnetenhaus. Seit Tagen freute sich Parlamentspräsident Wohlrabe schließlich schon darauf, in unmittelbarer Nachfolge von Otto Suhr wieder einen Vorsteher der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung begrüßen zu dürfen. Zum ersten Mal seit der Teilung der Stadtparlamente im Jahr 1948 nahm gestern nun nämlich als Gast der Stadtverordnetenvorsteher Professor Laurenz Demps nebst einer Delegation von Stadtverordneten aus dem Roten Rathaus teil. Wieder eine historische Stunde also, denn schließlich können und sollen die Brüder und Schwestern bei uns Demokratie lernen, parlamentarische genauer gesagt.

Die Lektion Parlamentarische Demokratie I dürfte lehrreich gewesen sein. Zu Beginn der Tagesordnung gibt Präsident Wohlrabe offiziell das Ausscheiden der ehemaligen AL -Fraktionsvorsitzenden Heidi Bischoff-Pflanz bekannt. Beifall aus den Reihen der CDU und der Reps. Sodann verkündet Wohlrabe den Rücktritt des schwulen Vizepräsidenten Albert Eckert, den die Schmutzkampagne des Abgeordneten Wienhold um sein Sexualleben dazu gebracht hatte, auf weitere Amtsehren zu verzichten. Seltene Einmütigkeit beim nächsten Tagesordnungspunkt: Zur neuen Vizepräsidentin wird fast einstimmig Inge Frohnert, SPD, gewählt, auch die AL stimmt mit für sie.

Neue interessante Koalitionen dagegen bei der Abstimmung über die Aktuelle Stunde: Reps und die Regierungsparteien diese hatten ein ähnliches Thema vorgeschlagen wie die Reps und es dann zurückgezogen - stimmen gemeinsam gegen die CDU. Das sei besonders demokratisch, wird mir von seiten der AL versichert, denn auch die kleinen Fraktionen sollten einmal zum Zuge kommen. Das hohe Haus diskutiert also zum Thema „Vorschläge der Deutschen Bundesbank zur Abwertung von Löhnen und Renten in der DDR“. Zunächst der Rep-Abgeordnete und ehemalige NPD-Vorsitzende Kendzia. Das Echo in Mitteldeutschland auf den Vorstoß des Zentralbankrates, die Löhne und Renten im Verhältnis von 2:1 umzutauschen, sei verheerend, weiß er. Und er weiß auch die Ursachen zu analysieren: „Lafontaine will Schwierigkeiten, Vogel macht sie“, der Chef der Bundesbank, Pöhl, sei SPD-Mitglied seit 1948, „die CDU macht ein dummes Gesicht“, der einzige mit Durchblick sei Graf Lambsdorff. Kendzia plädiert für 1:1 und beruhigt die noch nicht existierende DDR-Regierung: „Die Reps stehen an Ihrer Seite.“

Die AL-Abgeordnete Dagmar Birkelbach eröffnet ihren Beitrag mit der vielversprechenden Aussage, sie sei heute etwas behindert im Kopf - weil sie an Schnupfen leide. Sie geißelt den gigantischen Wahlbetrug der CDU an der DDR-Bevölkerung und warnt vor den Folgen eines Umtausches von 2:1, Verarmung, Sozialabbau und Absacken der Löhne. Beifälliges Nicken bei den Ostberliner Gästen. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU, Landowsky, fährt im Anschluß die Retourkutsche: Frau Birkelbach gehöre einer politischen Richtung an, die in der DDR keine Chance mehr habe. Entscheidend bei der Währungsunion sei die Psychologie - der Saal horcht auf -, und davon verstehe er etwas. Die Berliner CDU habe gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Aufgabe, den jeweiligen Bundesparteien klarzumachen, daß ein Umtausch im Verhältnis von 2:1 für West-Berlin unverantwortlich sei.

Während der Saal sich fast völlig geleert hat, demonstrieren in der anderen Hälfte der Stadt Tausende gegen die Folgen des drohenden Umtauschkurses von 2:1. Im Westberliner Abgeordnetenhaus verkündet der Vertreter der Deutschen Demokraten, Andres, in gewohnter Napoleon-Pose: „Ich bin betroffen.“ Die Bürger in West-Berlin interessiere die Währungsunion nicht im geringsten, sondern „Katastrophen“ wie Tempo 30 oder die Sperrung der Havelchaussee. Die Lektion in Demokratie erreicht ihren Höhepunkt: Er werde dafür sorgen, so Andres, daß endlich die Westberliner in diesem Hause wieder etwas zu sagen haben.

Kordula Doerfler