Freischöpferische Eingriffe

■ Zu den Auseinandersetzungen um Ingeborg Bachmanns literarischen Nachlaß

Elke E. Atzler

Am 17. Oktober 1973 starb in Rom eine der bemerkenswertesten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts - Ingeborg Bachmann. Inzwischen hat man sich in einer Reihe von Publikationen der Schriftstellerin bemächtigt, wobei häufig die legendäre Gestalt im Mittelpunkt des Interesses stand. Blüht nun ihrem literatischen Nachlaß ein neuerlicher Zugriff?

Als Ingeborg Bachmann den Folgen eines mysteriösen Unfalls, der sich in ihrer römischen Wohnung in der Via Giulia ereignet hatte, erlag, sah sich die Familie Bachmann plötzlich mit dem Nachlaß einer Autorin konfrontiert, die nicht mit ihrem Tod gerechnet hatte und der Nachwelt kein penibel geordnetes Konvolut an Papieren hinterließ. Ein Blick in die nachgelassenen Blätter erbrachte sofort die Gewißheit des chaotischen Zustands der Manuskripte und der Notwendigkeit einer kritischen Ordnung, wollte man die Idee einer Werkausgabe verwirklichen. Diese sollte nun die bereits publizierten Texte sowie die wesentlichen Texte aus dem unveröffentlichten Nachlaß umfassen. Nun hatte die Familie von Anfang an den Wunsch, den Nachlaß, der sich an drei verschiedenen Orten befand - der Teil aus den letzten zehn Jahren in Rom, der hauptsächlich das Frühwerk betreffende Teil im Elternhaus in der Henselstraße in Klagenfurt und der ganz frühe Manuskripte und Entwürfe aus der Studienzeit betreffende Teil im Haus der Großeltern in Hermagor - nicht fremden Händen anzuvertrauen. Die Vorstellung ging dahin, diese Aufgabe Personen zu übertragen, die Ingeborg Bachmann gegenüber eine loyale Haltung einnahmen und gleichzeitig in literatischer Hinsicht kompetent waren. Die Journalistin Toni Kienlechner, die mit Bachmann befreundet gewesen war, schlug sowohl den Erben als auch dem Piper-Verlag die Lyrikerin Christine Koschel und die Germanistin Inge von Weidenbaum als diejenigen vor, die genau den gewünschten Kriterien entsprachen. Koschel und Weidenbaum waren nicht nur enge Freundinnen Bachmanns und mit deren Biographie bestens vertraut, sondern auch für Piper, der die Optionsrechte auf das Werk Bachmanns hatte, keine Unbekannten. Beide hatten bereits für sein Haus gearbeitet, Koschel war zudem seit 1966 selbst Piper -Autorin. Aus den genannten Gründen war es naheliegend, die beiden mit der Ordnung des Nachlasses und der Erarbeitung einer Werkausgabe zu betrauen.

Zunächst ging man daran, die verstreuten Teile des Nachlasses zusammenzutragen. Nach einer ersten Sichtung und Vorordnung der Blätter wurde das bereits publizierte Werk von den unveröffentlichten Manuskriptteilen getrennt. Während die schon veröffentlichten Texte nach der Ausgabe letzter Hand gedruckt wurden, setzte die eigentliche textphilologische Leistung bei der Edierung der unveröffentlichten Werkteile ein. Diese betrafen nicht nur Gedichte, Erzählungen und vermischte Schriften, sondern vor allem die Texte aus dem sogenannten „Todesarten„-Komplex, der nach Bachmanns eigenen Aussagen ein Buch werden sollte, „das aus mehreren Büchern besteht“. Die Eigentümlichkeit vieler Blätter verlangte eine Transkription, da sowohl handschriftliche Texte wie auch die Typoskripte, vornehmlich aus den letzten zehn Jahren, nur unter äußersten Schwierigkeiten zu entziffern waren, wie Koschel und Weidenbaum erklären. Die Entscheidung, dem Leser eine Auswahl aus dem „Todesarten„-Fragment zu präsentieren, wurde eingedenk der besonderen Eigenheiten dieser Blätter getroffen und in der Gewißheit, daß auch Bachmann selbst noch zu keiner Klärung bezüglich der Anordnung der einzelnen Textteile, geschweige denn zu einer zufriedenstellenden Formulierung ihrer Gedanken gelangt war. Auswahlkriterium war dabei das jeweilige Stadium der Ausarbeitung unter Berücksichtigung der Entstehungsstufen. Abgesichert wurden alle editorischen Entscheidungen durch die Einsichtnahme in die gesamte Verlagskorrespondenz, die den Herausgeberinnen von der Familie zur Verfügung gestellt worden war und die ansonsten mit allen übrigen Briefen zum gesperrten Teil des Nachlasses gehört. Auf diese Weise entstand eine Werkausgabe mit kritischem Apparat, die uns seit 1978 vorliegt. Nun sieht ein vom österreichischen Wissenschaftsfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gemeinsam gefördertes Projekt die „Erarbeitung eines druckfertigen Manuskripts für eine historisch-kritische Ausgabe von Ingeborg Bachmanns Todesartenzyklus“ vor. Dieses Projekt stützt sich auf den Vorwurf „inhaltlicher und logischer Umstimmigkeiten im dritten Band“ der vorliegenden Ausgabe, die den Roman Malina, das Romanfragment Der Fall Franza, eine Auswahl aus den Entwürfen zum Roman Requiem für Fanny Goldmann und zur Figur Malina enthält. Diese Unstimmigkeiten seien auf eine falsche Ordnung des Nachlaßmaterials zurückzuführen und von „der subjektiven Zielvorstellung einer leichten Lesbarkeit“ geleitet. Zusätzlich ist die Rede von „gelegentlich freischöpferischen Eingriffen der Herausgeberinnen“ und von „philologischem Dilettantismus“. Das geplante Unternehmen will eine Revision, Korrektur und Erweiterung des dritten Bandes der bestehenden Werkausgabe vornehmen. Neben einer „Neuordnung des Nachlaßmaterials“ zum „Todesartenzyklus“ soll auch eine Neufassung des betreffenden Teils der seinerzeit von Koschel und Weidenbaum erarbeiteten Registratur des gesamten literarischen Nachlasses erstellt werden. Die methodischen Grundlagen, auf denen die Korrektur basiert, erläutert Robert Pichl, der als Projektleiter verantwortlich zeichnet, in einem persönlichen Gespräch. In einem ersten Schritt wird eine sogenannte „kodikologische Analyse“ am Nachlaßoriginal durchgeführt. Die Neuordnung der Texte soll von der Zusammengehörigkeit des Materials her nach diversen Papiersorten und -farben, Wasserzeichen und Schreibmaschinentypen vorgenommen werden, um daraus neue Gruppierungsmöglichkeiten abzuleiten. Diesem Verfahren wird ein interpretatorischer Ansatz zur Seite gestellt, der sich auf die These einer der Mitarbeiterinnen Pichls gründet. Durch den Textvergleich des „Todesartenzyklus“ mit Werken Max Frischs, vor allem mit seinem Roman Mein Name sei Gantenbein, ließen sich kompositorische Ähnlichkeiten, Querverbindungen und Analogien in der Figurengestaltung nachweisen. Durch von dieser These geleitete Untersuchungen des Nachlaßmaterials ließe sich zeigen, daß der „Todesartenzyklus“ nicht - wie bisher angenommen - als mehrbändiges Romanwerk konzipiert sei, sondern als „großer zweiteiliger Roman“. Gepaart mit der kodikologischen Analyse führe dieser interpretatorische Gesichtspunkt zu einer „veränderten Anordnung der Texte“ und könne so das „falsch vermittelte Bild vom Spätwerk korrigieren“.

Pichl, der als Koordinator der wissenschaftlichen Arbeiten am Bachmannschen Nachlaß fungiert, hat seinerseits eine kleine Bachmann-Edition vorgelegt. Diese basiert auf einer völligen Fehleinschätzung. Das von ihm herausgegebene Fragment Gier, ein zwanzig Seiten umfassender Erzählentwurf, wird in der Edition als Fassung „vorletzter Hand“ bezeichnet, der nur noch die „mechanisch korrigierte Reinschrift“ fehle. Bachmann hingegen hatte dem Verleger eine Erzählung bis 150 Seiten für die Bibliothek Suhrkamp angekündigt. Nur ein akademischer Ausrutscher oder mangelndes Stilgefühl für die Besonderheiten der Bachmannschen Prosa?

Nun hat die Wissenschaft viele Methoden, mit denen sie einem literarischen Werk beizukommen sucht, und jede Methode zeigt ein anderes Bild. Was an diesem neuen Unterfangen jedoch überrascht, ist nicht die Beliebigkeit unverifizierter Thesen oder die Zweifelhaftigkeit einer Methode, sondern die Ignoranz jeglichen Voraussetzungen gegenüber, die die Zielsetzung rechtfertigen würden. Zur Erstellung einer historisch-kritischen Ausgabe ist es unerläßlich, alle Textzeugen einzusehen und zu verwenden. Im vorliegenden Fall ist jedoch ein Teil dieses Nachlasses mit einer Sperrfrist von 50 Jahren belegt. Dieser enthält neben Briefen und privaten Aufzeichnungen Bachmanns auch einen Bestandteil des literarischen Nachlasses. Laut Auskunft von Koschel und Weidenbaum, die an der Auswahl der zur Sperrung vorgesehenen Texte beteiligt waren, enthält dieser zuletzt genannte Teil Prosa und sogar Gedichte zum „Todesartenzyklus“, die in die Realisierung des beabsichtigten Unternehmens miteinbezogen werden müßten. Die Tatsache, daß diese Texte nicht greifbar sind, führt allein die Idee einer historisch-kritischen Ausgabe ad absurdum. Über diesen Sachverhalt hinaus wird von den Herausgeberinnen eine weitere Problematik angeführt: „die besondere Beschaffenheit, der eigentliche Zustand gewisser Blätter“.

Damit ist ein brisantes Thema berührt. Bekannt ist, daß Ingeborg Bachmann in den letzten Jahren ihres Lebens suchtkrank war. Öffentlich bekannt ist mittlerweile auch der Umstand, daß sich ihr Unfall am 26.September 1973 im Zuge schwerer Entzugserscheinungen ereignet haben dürfte. Nicht bekannt waren bislang die Konsequenzen, die die medikamentöse Abhängigkeit der Autorin für ihre Arbeit zeitigte. Aufgrund der durch Psychopharmaka alterierten Zustände weisen die Typoskripte aus den letzten zehn Jahren häufig schwerwiegende und zum Teil unentzifferbare Verschreibungen auf. Daß dazu nicht notwendigerweise die authentische Aussage der Herausgeberinnen herangezogen werden muß, weiß der Leser des offenen Nachlaßteiles. Nach dem Grad der Verschreibung wurde ein Teil der betreffenden Blätter in den gesperrten Teil des Nachlasses übernommen. Um diesen Werkteilen überhaupt etwas an Sinn abgewinnen zu können, sei es nach Koschel und Weidenbaum unabdingbar, den biographischen Hintergrund der jeweiligen Texte und deren grundlegende Zusammenhänge zu kennen, ohne die es unvermeidbar wäre, daß eine Reihe von Fehlzuordnungen und Fehlinterpretationen zustande kämen.

Nun wirft sich natürlich die Frage auf, nach welchen Kriterien diese Zeugnisse, die Aufschluß über den psychischen Zustand ihrer Verfasserin geben, in einem gesperrten Teil abgelegt wurden, nach welchen Kriterien überhaupt ein gesperrter Nachlaßteil eingerichtet wurde. Geht man davon aus, daß der Grad der Unverhülltheit des Biographischen, der Qual- und Leidenszustände, die da zu Papier gebracht wurden und die Bachmann versuchte, schöpferisch in Literatur zu verwandeln, vom Blick der Öffentlichkeit abgeschirmt werden sollte, warum dann nur für 50 Jahre? Unterliegt der Schutz des Privatlebens einer zeitlichen Grenze, oder geht es gar nicht um den Schutz der Toten, sondern um den Schutz und die Scham der Lebenden? Das Verhalten der Familie Bachmann legt diesen Schluß nahe. Und wenn es stimmt, daß eine Anzahl von Texten nur von Zeitgenossen aufgeschlüsselt werden können, was haben jene Blätter dann in einem gesperrten Nachlaß zu suchen, den im Jahre 2031 neue Seminargenerationen heimsuchen werden, dann allerdings ohne das Korrektiv verläßlicher Auskunftspersonen. Ob damit der Legendenbildung, der man vorgibt, entgegenwirken zu wollen, Einhalt geboten wird, bleibt zu bezweifeln. Die Tote selbst wird nicht mehr getroffen. Das, was mit ihrem nachgelassenen Werk geschieht, verantworten die Hinterbliebenen - von kodikologischen Analysen bis zur Verhinderung einer ernstzunehmenden Biographie. „Hier braucht sich kein Mensch auszukennen“, sagt das weibliche Ich in Ingeborg Bachmanns Roman Malina. Daraus kann jeder seine eigenen Schlüsse ziehen.