Rijkaard als Chef in der Buddelkiste

Die Bayern verteidigen sich wacker zu einem 1:0, aber erspielen dabei keine einzige Torchance  ■  Aus Mailand Matti Lieske

Der Platzwart von Real Sociedad San Sebastian pflegt, so geht die Mär, in der Nacht vor wichtigen Partien den Rasen des heimischen Stadions ausgiebigst zu fluten, damit die rutschfesten Gastgeber ihre wasserscheuen Gegner nach Belieben in Grund und Boden, rsp. Schlamm und Matsch spielen können. Die Münchner Bayern nahmen vor Jahren einen eigenen Koch mit nach Dresden, weil sie fürchteten, ein abgefeimter sächsischer Küchenchef könnte ihnen Schlafpulver in die Broiler praktizieren. Ein nicht ganz unberechtigter Verdacht, wie man inzwischen weiß: Wenn schon sämtliche Politiker im Dienste der Staatssicherheit standen, warum dann nicht auch der Herdbrigadist?

So gesehen nimmt es Wunder, daß niemand aus dem zum Europapokal-Halbfinale nach Mailand gereisten Bayern-Troß den Verdacht äußerte, die Mailänder könnten die Spielfläche im Stadion von San Siro mutwillig derart ruiniert haben, daß allenfalls noch Wüstenbewohner von einem Rasen sprechen würden. Denn daß nicht nur die deutschen Tenniscracks, sondern auch die Fußballer eine tiefgreifende Aversion gegen Sandplätze hegen, dürfte sich nach den fast oder vollständig vergeigten Spielen in den Buddelkisten von Albanien oder Malta auch bis nach Italien herumgesprochen haben.

Schon beim Einspielen rissen die Stollen der Bayern-Spieler tiefe Löcher in den Untergrund, der vor einigen Tagen bereits dem FIFA-Vizepräsidenten Hermann Neuberger bei seiner Besichtigung Schweißtropfen des Entsetzens in die zerfurchte Stirn getrieben hatte. Schließlich soll hier in wenigen Wochen das Eröffnungsspiel der Fußball-WM vonstatten gehen. Und in diesem feierlichen Rahmen wären die weißgewandeten Gärtner, die sofort nach dem Verschwinden der aufgewärmten Bayern auf den Platz eilten und die aufgerissenen Schollen wieder festklopften, doch ein wenig fehl am Platze.

Kaum waren die weißen Männlein verschwunden, schickten sich die schwarz-roten Männlein des AC Mailand an, ganz andere Löcher zu reißen, solche in die Münchner Abwehr nämlich. Nach 20 Sekunden schon hatte Jürgen Kohler seinen Gegenspieler Marco van Basten im Griff, zumindest was dessen Trikot anbelangt. Eine Szene, die symptomatisch war für das weitere Geschehen. Nur ein einziges Mal, in der 50. Minute, schaffte es Kohler mit halbwegs fairen Mitteln, vor van Basten am Ball zu sein, und da legte er ihm das Leder prompt gleich wieder hin. Das war die zweitbeste Chance des Holländers, der aber vor lauter Verwirrung über soviel kohlersche Tölpelhaftigkeit Torwart Aumann anschoß.

Kohler war nie in der Lage, van Basten nennenswert zu stören, hatte aber Glück, daß dieser nicht seinen treffsichersten Tag erwischte. In der 31. Minute köpfte er haarscharf am Tor vorbei, und in der 60. kam er nach raffiniertem Doppelpaß mit Rijkaard, obwohl wieder Kohler an ihm hing, zum Schuß - Aumann parierte akrobatisch. Kurz vor Schluß ließ auch Borgonovo den unglückseligen Vorstopper, der zwischendrin mit haarsträubenden Fehlpässen für zusätzliche Ungemach sorgte, ein weiteres Mal lässig stehn und servierte Stroppa eine maßgerechte Vorlage, die dieser genauso verstolperte wie eine bessere Gelegenheit in der 64. Minute, als er völlig allein aufs Tor vom erstklassigen Aumann zustreben durfte.

Die Bayern hatten während des gesamten Spiels nicht den Hauch einer Torchance, und sie waren so harmlos, daß sich Franco Baresi, der einen ähnlich schwarzen Tag wie Kohler erwischte hatte, erlauben konnte, einen solchen Blödsinn zu verzapfen, daß ein Stadionordner vor lauter Vergnügen lauthals losprustete. Das grenzte an Majestätsbeleidigung, aber der gute Mann klärte die Sache sogleich auf: „Ich bin Inter-Fan“, gestand er verschwörerischen Blicks.

Vorn blamierte sich der Schotte McInally mit geradezu schamloser Hartnäckigkeit, und im Mittelfeld wurde von den Bayern fast jeder Zweikampf verloren. Vor allem der alles überragende Frank Rijkaard nahm die Bälle an sich, wie er wollte, um sie dann gerecht und ausgewogen in wechselnde Richtungen zu verteilen. Daß die „harten Knochen“ (Gullit) aus München dennoch so glimpflich davonkamen, lag hauptsächlich daran, daß Arrigo Sacchi diesmal nicht in der Lage war, sein Handicap wegzuzaubern (s.a Press-Schlag). Der verletzte Ancelotti und der gesperrte Donadoni, von Gullit nicht zu reden, waren unersetzlich, ihre Doubles Simoni und Evani brachten immer wieder Ungenauigkeiten in das Mailänder Angriffsspiel.

So mußte ein Elfmetertor den knappen Sieg sichern: Pflügler hatte sich im Trikiot von Borgonovo verkrallt, die Zuschauer forderten zum dritten Mal Strafstoß, und der schwedische Schiedsrichter Carlsson ließ ihnen ihren Willen. Massaro präparierte sorgsam den Elfmeterpunkt und van Basten erzielte in der 77. Minute mit seinem 64. Tor im 100. Spiel für Mailand das 1:0, sein Wunschergebnis.

Arrigo Sacchi wäre sogar mit einem 0:0 hoch zufrieden gewesen, das 1:0 fand er geradezu optimal. Ziemlich bescheiden für eine Mannschaft, die allgemein als die beste der Welt angesehen wird. Aber der diesmal arbeitslose Torwart Galli hat eine einleuchtende Erklärung parat: „Auswärts sind wir noch furchtbarer.“

MAILAND: Giovanni Galli - Baresi - Tassotti, Filippo Galli, Maldini - Colombo (46. Stroppa), Rijkaard, Evani, Simoni (70. Borgonovo) - van Basten, Massaro

MÜNCHEN: Aumann - Augenthaler - Reuter, Kohler, Pflügler Flick, Dorfner, Strunz, Kögl - Bender (81. Thon), McInally

Zuschauer: 62.717

Tor: 1:0 van Basten (77./Foul11m)