Ein Anfang

■ Konstituierung der Volkskammer und Vorstellung des DDR-Verfassungsentwurfes

Nach dem Bonner Diktat der Währungsunion und nach dem Ergebnis der DDR-Wahl liegen vulgärmarxistische Interpretationen nahe. Wie Habermas mag man den politischen Prozeß der nächsten Monate unter den Titel „D-Mark -Nationalismus“ stellen und die DDR-Politik als „ferngesteuert“, von Bonn her nämlich, betrachten. Soll man also die Konstituierung der Volkskammer mit Rührung betrachten, deren politische Qualität nicht mehr Interesse gebührt als der Frage, welche musikalische Qualität die Darbietungen der Kapelle auf der untergehenden Titanic hatten? Eine vereinfachende Perpektive.

Die Konstituierung der Volkskammer fällt zusammen mit dem neuen Verfassungsentwurf. Das ist keineswegs nur eine zeitliche Koinzidenz, denn die Parlamentsarbeit wird in spannender Weise zum Verfassungsprozeß stehen müssen. Tatsächlich braucht die Volkskammer, selbst wenn sie den beschleunigten Anschluß an die Bundesrepublik beschließen wollte, eine verfassungsmäßige Legitimation. Die geltende Verfassung kann es nicht sein. Das ist zudem Überzeugung aller Parteien des neuen Hohen Hauses. Die Möglichkeit der Rückkehr zur Verfassung von 1949 verlangt die Prozedur von unabsehbaren Verfassungsänderungen. So könnte tatsächlich der Gedanke der Opposition der Bürgerbewegungen erfolgreich sein: daß die Volksammer den Entwurf einer neuen Verfassung provisorisch annimmt und einen Volksentscheid anstrebt. Der Geist des Entwurfs meint allerdings eine Einigung der Deutschen mit einer Verfassungsgebenden Versammlung. Er ist der „revolutionären Erneuerung“ verpflichtet und schreibt doch Ideen eines anderen Deutschland aus positiven und negativen Erfahrungen einer vierzigjährigen Sonderentwicklung fest. Wieweit solche Texte und Verfassungsziele dem Druck einer beschleunigten deutsch -deutschen Angleichung standhalten, das ist offen. Aber auch wenn dieser Verfassungsentwurf diametral den Aussagen der „Allianz“ entgegensteht, wird es selbst einer großen Koalition schwer fallen, ihn in toto abzulehnen. Expliziter Verzicht auf die kurze Tradition des demokratischen Aufbruchs wird nicht ohne weiteres mehrheitsfähig sein. Es könnte sich zeigen, daß die Eigenständigkeit der DDR zwar ein Phantom war und sein mußte, solange sie nur als Bastion gegen die deutsche Einheit verstanden wurde. Aber im Prozeß der Vereinigung könnte schon allein deswegen, weil die Schritte dazu aus innerer Notwendigkeit nach Regeln und verfassungsmäßig geschehen müssen, so etwas wie eine Eigenständigkeit der DDR entstehen. Liest man jedenfalls den Verfassungsentwurf genau, ist eine ernstzunehmende Gegenposition zum D-Mark-Nationalismus entstanden.

Klaus Hartung