Ein Warnschuß der Liberalen

Konstituierende Sitzung der Volkskammer: Die Parlamentspräsidentin kam erst beim zweiten Wahlgang durch  ■  Aus Berlin Walter Süß

Mit den Worten „Gott schütze unser deutsches Vaterland!“, einem Zitat aus Helmut Kohls Rede in Dresden, eröffnete Lothar Piche von der DSU als Alterspräsident die konstituierende Tagung der ersten und wohl auch letzten demokratisch gewählten Volkskammer der DDR. Zuvor hatte die Mehrheit der Abgeordneten gemeinsam an einem ökumenischen Gottesdienst in der Gethsemane-Kirche teilgenommen, bei dem die drei Moderatoren des Runden Tisches - alle drei Geistliche - über das Thema Friedfertigkeit predigten.

Die Stimmung unter den Abgeordneten im Palast der Republik war nicht nur bei der PDS eher gedämpft. Das Gerangel um die Koalitionsbildung und die drückenden Probleme, vor denen dieses Parlament stehen wird, ließen Hochgefühle nicht recht aufkommen. Die erste Aufgabe, vor der die 390 anwesenden Abgeordneten standen, war die Wahl eines Parlamentspräsidenten. Mit Ausnahme der Liberalen hatten alle fünf Fraktionen für dieses Amt eigene Kandidaten nominiert. Mit sanfter Ironie charakterisierte Jens Reich seinen Favoriten Wolfgang Ullmann von der Bürgerrechtsorganisation Demokratie Jetzt als jemanden, dessen politische Aktivität „in die Zeit vor der Wende zurückreicht“. Und Gregor Gysi präsentierte den noch amtierenden Ministerpräsidenten Hans Modrow mit den Worten: „Er verkörpert Geschichte, Gegenwart und Zukunft dieses Landes.“ Da ging ein Raunen ging durch den Saal.

Wenig sprach dafür, daß sich eine Mehrheit der Abgeordneten dieser Sichtweise anschließen würde. Tatsächlich erhielt Modrow bei der Wahl dann genau so viele Stimmen, wie PDS -Abgeordnete anwesend waren: 65. Der PDS ist es somit auch mit dem populären Hans Modrow nicht gelungen, ihre Isolation in den neuen Volkskammer zu durchbrechen.

Die eigentliche Überraschung dieser Wahl war, daß die Kandidatin der CDU, Sabine Bergmann-Pohl, sich erst in einem zweiten Wahlgang mit 214 Stimmen gegen den SPD-Kandidaten Reinhard Höppner mit 171 Stimmen durchsetzen konnte. Fünf Stimmen waren ungültig. Im ersten Wahlgang hatte sie mit 188 Stimmen nicht die erforderliche Mehrheit erreicht. Höppner hatte in der ersten Runde 88 Stimmen erhalten, der frühere Volkskammerpräsident Günther Maleuda von der Bauernpartei 22 und Wolfgang Ullmann vom „Bündnis '90“ 31 Stimmen. Die Liberalen, als einzige Fraktion ohne eigenen Kandidaten, hatten ihrem konservativen Bündnispartner offenbar einen kleinen Schuß vor den Bug verpassen wollen und ihre Stimmen auf Maleuda und Ullmann verteilt.

In einem Pausengespräch erklärte der Fraktionsvorsitzende Ortleb vom Bund Freier Demokraten solche Überlegungen jedoch zu einem Ergebnis „schlechter Mathematik“. Einen Fraktionszwang habe es nicht gegeben, und außerdem sei die Wahl geheim gewesen.

Mit der 43jährigen Ärztin Bergmann-Pohl steht auch an der Spitze des zweiten deutschen Parlaments eine Frau. Mit ihrer Kollegin Rita Süssmuth würde sie nach der Vereinigung gerne im Präsidium eines gesamtdeutschen Parlaments zusammenarbeiten, hatte sie vor der Wahl erklärt.

Sabine Bergmann-Pohl stammt aus Eisenach, arbeitet aber in Berlin beim Magistrat. Sie ist Mitglied der CDU seit 1981.