Völkermordakten beiseite geschafft?

Sinti und Roma verlangen Aufklärung über in Karlsruhe gelagerte Deportationslisten aus der Nazizeit  ■  Von Erwin Single

Stuttgart (taz) - Auf der Karlsruher Landespolizeidirektion (LPD) lastet ein schwerer Verdacht: Hat sie „Zigeuner -Rasseakten“ des NS-Reichssicherheitshauptamtes beiseite geschafft, mit denen die Nationalsozialisten den Völkermord an rund 40.000 Sinti und Roma geplant und organisiert haben? Tausende der Akten - darunter Deportationslisten und Todesmeldungen über Morde in Konzentrationslagern - seien bei Kriegsende nach Karlsruhe gebracht worden und nun nicht mehr auffindbar. Das behauptet der Zentralrat deutscher Sinti und Roma.

Nach Angaben des Vorsitzenden Romani Rose ist der Zentralrat im Besitz von Dokumenten aus Karlsruhe, die die organisierten Verbrechen an Sinti- und Roma-Familien belegen. In Stuttgart erklärte Rose, es bestehe die Gefahr, daß weiteres, ehemalige NS-Täter belastendes Material beseitigt werde. Der Landesregierung warf er vor, die Bedeutung der Deportationsakten „in schamloser Weise“ als schlichte „Kriminalakten“ herunterzuspielen. Auf diese Weise würden Opfer im nachhinein „kriminalisiert“.

Auf eine SPD-Landtagsanfrage über den Verbleib der Akten hatte die Landesregierung kürzlich erklärt, in baden -württembergischen Staatsarchiven würden keine sogenannten „Zigeunerrasseakten“ aufbewahrt. Entsprechende Akten seien nicht als „Landfahrerakten“ fortgeführt worden - auch nicht in der 1971 aufgelösten „Zentralkartei zur Bekämpfung von Zigeunerdelikten“ des Landeskriminalamts. Die Regierung räumte aber ein, daß 1960 „noch Akten und Aktenbestände in Karlsruhe vorhanden waren, die aus der Zeit von vor 1945 gestammt haben“ - Unterlagen aus der örtlichen NS -Kriminalpolizeistelle. Der Verbleib lasse sich nicht klären. Vermutlich seien sie nach 1970 „im Zuge des Aufbaus der automatisierten Personenauskunftsdatei“ ausgesondert worden.

Der Zentralrat gibt sich mit diesen Auskünften nicht zufrieden. Als Beweis für das Vorhandensein der Akten in Karlsruhe führt Rose einen aus dem Jahr 1960 stammenden Aktenvermerk eines Frankfurter Staatsanwalts an. Der Staatsanwalt hatte nach Rücksprache mit Karlsruher Beamten notiert, sämtliche ausgelagerte Akten seien vorhanden. Der Bestand umfasse „viele tausend Akten“. LPD-Präsident Rainer Schulte erklärte, nach Recherchen beim Staatsarchiv sei ein weiterer, bislang unbekannter Aktenvermerk aufgetaucht, in dem die Staatsanwaltschaft ihren früheren Vermerk korrigiere.

Doch der Zentralrat hat einen weiteren Anhaltspunkt: Die Landesregierung habe eingeräumt, daß zwischen 1952 und 1966 ein gewisser P.W. zuletzt als Ministerialrat im Stuttgarter Innenministerium beschäftigt gewesen sei. In der Anfrage der SPD hieß es, der im Berliner Reichssicherheitshauptamt von 1937 bis 1945 als Abteilungsleiter mit den Sinti- und Roma -Akten betraute Paul Werner sei nach dem Krieg in den Dienst des Landes genommen worden. Nach Roses Darstellung brachte der ehemalige SS-Mann Werner die Akten bei Kriegsende nach Karlsruhe, wo er bis 1937 die Kriminalpolizeistelle geleitet hatte. Und weiter: der inzwischen verstorbene Werner sei als Stuttgarter Regierungsbeamter unbehelligt geblieben - trotz eines 1963 aus Frankfurt an die Staatsanwaltschaft Stuttgart abgegebenen Ermittlungsverfahren wegen Massenmordes.