Noch kein neuer Frühling in Peking

■ Am Volkstrauertag blieb der Spaziergang der Demokratiebewegung gegen die Allmacht des Staates Phantasie

Mit Bussen angekarrte Bürger marschierten am Donnerstag auf den seit dem 1. April abgesperrten Platz des Himmlischen Friedens gegen die von der Führung befürchteten Trauerbekundungen an. Zum Abschluß des Pekinger Volkskongresses gab sich Ministerpräsident Li Peng staatsmännisch und stieß auf einhellige Zustimmung der Volksvertreter: Die Lage sei „stabil“. Schon vor einem Jahr hatte die Führung auf die schwelende Krise mit Dogmatik und Härte reagiert. Nur die Hongkonger Deputierte störte gestern die verordnete Ruhe und verlangte eine Erklärung für den Waffeneinsatz am 4. Juni vergangenen Jahres.

In Peking haben Polizei und paramilitärische Einheiten gestern erneut den Platz des Himmlischen Friedens gesperrt. Damit wurde das Zentrum der chinesischen Hauptstadt nach dem 1. April zum zweiten Mal innerhalb einer Woche abgeriegelt offensichtlich aus Furcht, es könnte zu Demonstrationen von Studenten kommen. Oppositionelle Gruppen im Ausland hatten die Hochschüler dazu aufgerufen, den traditionellen Volkstrauertag Qingming mit einem Protestspaziergang zu feiern. Die Behörden wollten mit einer offiziellen Kundgebung offenbar einer inoffiziellen zuvorkommen: In Bussen herantransportierte Bürger marschierten an der mit der Parole „Mit unserer Revolution China stärken“ geschmückten Heldensäule vorbei und besuchten anschließend das Mao-Mausoleum.

Am Tiananmen-Platz standen alle 20 Meter Uniformierte, Zivilbeamte versuchten, unsichere Kantonisten aus der Enge der Passanten zu identifizieren. Wie schon am Wochenende waren Patrouillenfahrzeuge und Feuerwehren in den Seitenstraßen aufgefahren, Kolonnen von Befreiungsarmisten zogen demonstrativ vor dem Revolutionsmuseum über den Bürgersteig. Ein Kamerateam aus der DDR wurde gewaltsam an der Arbeit gehindert.

Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen herrschten diesmal auch im Pekinger Universitätsviertel. An einer wichtigen Straßenkreuzung waren mehrere Polizeiwagen in Stellung gegangen. Zuweilen fünf Mann starke, mit Gummiknüppeln und Pistolen bewaffnete Polizeieinheiten patrouillierten durch die Gegend. Der Campus der Beida-Universität machte gestern einen ruhigen, fast verschlafenen Eindruck. Es scheint, daß die Studenten sich durch die überall gezeigte Allmacht des Staates haben beeindrucken lassen. Klammheimliche Freude herrschte bei einigen über die Nachricht, der Studentenführerin Chai Ling sei die Flucht nach Frankreich gelungen. Ministerpräsident Li Peng, auf einer Pressekonferenz auf das Entkommen der Studentin angesprochen, verzog keine Miene: Er hoffe, daß sich Frankreichs Behörden an ihre Zusage hielten, keine politischen Aktivitäten gegen andere Länder zu erlauben, erklärte er. Li, der sich nach Abschluß des über zweiwöchigen Volkskongresses der Presse stellte, beharrte auf seiner These, die Lage in China sei „stabil“, die Niederschlagung der Protestbewegung sei notwendig gewesen, weil es sich um einen „konterrevolutionären Putsch“ gehandelt habe.

Die letzte Sitzungsrunde der 2.700 Volksvertreter verlief gestern getreu der derzeit immer wieder von den Führern hervorgebrachten Forderung nach „Stabilität und Einheit“ in China. Zu wichtigen Personaländerungen kam es nicht. Parteichef Jiang Zemin löste erwartungsgemäß den KP -Patriarchen Deng Xiaoping als Vorsitzenden der Militärkommission ab. Die Deputierten segneten alles ab, was ihnen die Regierung vorlegte. Soweit bislang bekannt wurde, legten sich nur einige Deputierte aus Hongkong quer und verlangten - vergeblich - in einer internen Diskussion mit Offiziellen eine Begründung für den Waffeneinsatz am 4. Juni des vergangenen Jahres. Die Hongkonger Abgeordnete Lisa Wang hatte schon vorher in einer Sitzung ruhig, aber bestimmt erklärt: „Die Ereignisse am 4. Juni haben das Herz vieler Menschen gebrochen, sowohl der Landsleute in Hongkong als auch auf dem Festland.“ Viele Hongkonger verstünden nicht, so die TV-Schauspielerin, wie eine Studentenbewegung zu einer „konterrevolutionären Unruhe“ stilisiert werden könne. Frau Wang forderte die Regierung auf, das verlorengegangene Vertrauen wiederherzustellen. Die Stadt verliert ab 1997 ihren Status als britische Kronkolonie und wird Sonderverwaltungszone Pekings.

Das Tiananmen-Massaker hatte bei den Bürgern Hongkongs erhebliche Unruhe ausgelöst: Das vom Volkskongreß jetzt verabschiedete sogenannte basic law, das Grundgesetz der zukünftigen Sonderverwaltungszone, trägt kaum zur Vertrauensbildung bei: Nach Ansicht vieler Hongkonger enthält es nicht genügend demokratische Mitbestimmungsrechte.

Boris Gregor, Peking