Schon vor einem Jahr machte sich Enttäuschung breit

Peking, 5. April 1989: Zehntausende Familien versammeln sich am traditionellen Totengedenktag Qingming an den Urnenstätten, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. In den kleineren Straßen wird Papiergeld für die Ahnen verbrannt. Hunderttausend Pekinger haben schon in den Tagen zuvor auf Weisung der Partei die Friedhöfe der kommunistischen Märtyrer gereinigt. Niemand kann voraussehen, daß nur zehn Tage später der Tod des ehemaligen Generalsekretärs Hu Yaobang zum Auslöser für die größte Demokratiebewegung in der Geschichte der Volksrepublik werden wird. In den sieben Wochen entwickelt sich aus dem Protest einiger tausend StudentInnen eine landesweite Massenbewegung mit Unterstützung aus allen Bevölkerungsschichten. Ihr ziviler Ungehorsam gibt der Welt ein Beispiel für Menschlichkeit und Mut. In China kehrt für eine kurze Zeit Hoffnung ein; ein neues China schien zum Greifen nahe. Die Regierung antwortet mit dem Massaker. Die Verantwortung trage, so die offizielle Version, die konterrevolutionäre Verschwörung einer Minderheit von kritischen Intellektuellen, Abweichlern in der Partei und reaktionären Kreisen im Ausland.

Peking, 5. April 1989: An den Universitäten wird intensiv über die gerade zu Ende gegangene Jahrestagung des 7. Volkskongresses diskutiert. Enttäuschung und Bitterkeit spiegeln sich in den Gesichtern. Denn vor dem Hintergrund der stark angespannten und instabilen wirtschaftlichen und politischen Situation werden die Beschlüsse des Volkskongresses allgemein als kontraproduktiv empfunden: Erstmals seit Reformbeginn hat die Wirtschaftskrise den Lebensstandard in den Großstädten drastisch gesenkt, die Inflationsrate von 35 bis 40 Prozent (die Regierung gab nur 18,5 Prozent für das Jahr 1988 zu) schluckt die Arbeiterlöhne und ruft starke soziale Unzufriedenheit bei allen Bevölkerungsschichten hervor. Konsumgüter sind knapp, angekündigte neue Rationierungen führen vielerorts zu Hamsterkäufen. In den Großstädten sind Hunderttausende von Wanderarbeitern und Tausende von Jugendlichen arbeitslos. Alkoholismus und Kriminalität nehmen zu.

Strukturreform

im Sande verlaufen

Politisch ist die vorsichtig eingeleitete Strukturreform zum Abbau und zur Vereinfachung des aufgeblasenen Staats- und Parteiapparats am Widerstand der um ihre Privilegien besorgten Kader im Sande verlaufen. Korruption greift in der Partei immer weiter um sich. Das Bildungswesen befindet sich in einem völlig desolaten Zustand, was selbst der starke Mann Deng Xiaoping in einer vielzitierten Rede vom 24.März 89 einräumen mußte. Die Intellektuellen sind der Regierung verdächtig: Immer unüberhörbarer artikulieren sie ihre Kritik an der autoritären Politik der KP. 1978 und 1986 wurden die Studentenbewegungen für Demokratisierung unterdrückt. Aber die Forderungen nach Menschenrechten und Freiheit hörten nicht auf: Am 6. Januar 89 bittet Fang Lizhi in einer Petition an Deng Xiaoping um eine Amnestie für politische Gefangene und die Freilassung von Wei Jingsheng, am 13. Februar wird der offene Brief von 33 bekannten Intellektuellen unterschrieben. Aus Rache verhindert die Regierung die Teilnahme Fangs an einem Bankett mit Präsident Bush, der am 25. Februar in Peking eintrifft. Diskussionen über die Perestroika in der UdSSR werden nicht zugelassen. Statt dessen antwortet das Regime auf seine Art: Am 8.März wird über Lhasa das Kriegsrecht verhängt, zahlreiche Mönche kommen im Kugelhagel der Polizei ums Leben.

Angesichts dieser Krisensituation setzte der Volkskongreß auf Dogmatik und Härte: Die Wirtschaftsreform wird angehalten, der Einfluß der Partei in den Betrieben gestärkt, die Staatsausgaben gekürzt, die Nachfrage gedrosselt und die Steuern erhöht; mehr Planwirtschaft, Preiskontrolle und die Rationierung wichtiger Konsumgüter und Lebensmittel sollen die Inflation senken. Als einzige Antwort auf die politischen Forderungen nach Emanzipation fordert die Partei zu sozialer Stabilität, Einheit und Geschlossenheit auf. Während der Tagung wurde die Kontrolle der Medien verschärft, um für die Zukunft Zeichen zu setzen.

Als erstes reagieren die StudentInnen. An den Universitäten bilden sich Diskussionsforen über Demokratie und Reform. Gemeinsam analysieren sie die Krise Chinas. Zum bevorstehenden Jahrestag der 4.-Mai-Bewegung 1919 möchten sie mit Diskussionen und eigenen Veranstaltungen an die kritische Tradition der StudentInnen Chinas anknüpfen. Von offizieller Seite wird dagegen auf Entpolitisierung des Jahrestages gesetzt: Im Programm werden Konzerte, Reden von Parteifunktionären, Ausflüge und sogar eine Modenschau für Jugendliche als Beitrag zum 4. Mai angekündigt.

Tatsächlich wird für die Führung ein Alptraum wahr: Am 4. Mai 1989 ziehen unter dem Beifall der Stadtbevölkerung 70 bis 90.000 StudentInnen aus mehreren Städten Chinas durch Peking. Wie aus einer anderen Zeit wirkt der Jahresbericht der Polizei zur Lage der Nation, den die parteiamtliche 'Volkszeitung‘ am 30. März gedruckt hatte: „Die Gesellschaft ist grundsätzlich ruhig und stabil.“

Peking, 5. April 1990: Am Totengedenktag soll der Opfern des Massakers gedacht werden. Anonyme Gruppen rufen die Pekinger auf, als Zeichen der Trauer und des Protestes über den Platz des Himmlischen Friedens zu gehen (siehe Dokumentation). Der Platz soll von der Polizei abgesperrt, „Störer“ gleich in „Gewahrsam“ genommen werden. Die Zeiten der Trauer sind noch nicht vorbei.

Thomas Reichenbach