LITTLE AMERICA

■ The (high)way of life - eine Autoerfahrung/Vorabdruck

Da standen wir nun und schauten einander ungläubig an. You have to be in a car! Hatten wir es denn immer noch nicht kapiert? Nun waren wir fast zwei Monate durchs Land gefahren, hatten zum Schluß ein Auto von der Ostküste überführt und den kostbaren Sportwagen wohlbehalten in einem Vorort von San Francisco abgegeben. Dafür gab's von der autodriveaway-Vermittlungsstelle die hinterlegte Kaution zurück, in Form eines 300 Dollar Schecks. Und den wollten wir nun an Ort und Stelle einlösen. Fehlanzeige! An einem Freitag nachmittag hat nur der Autoschalter der Bank of the West geöffnet, und da wird man natürlich nur im Auto bedient. Vielleicht könnten wir ein yellow cab nehmen, wird uns vorgeschlagen. In Abwandlung der Restaurantwarnung „no shirt, no shoes - no service„ heißt es hier „no car - no cash“. Easy driving

Verblüfft beobachtet man zu Anfang noch, wie klein oder zusammenhanglos die zierlichen alten Damen - die mit den lilagetönten Haaren - wirken, wenn sie am Supermarkt einem der riesigen Cadillacs entsteigen. Aber bald hat sich das Auge daran gewöhnt. Die Wagen, automatisch von der Schaltung bis zur Kofferraumöffnung, sind so perfekt mit Bremskraftverstärker und Servolenkung ausgestattet, daß das Fahren weder Arbeit noch sportliche Anstrengung ist, sondern zu einer spielerischen Selbstverständlichkeit wird. Mit der Automatikschaltung werden Bein und Arm fast nicht mehr zum Fahren gebraucht. Der freie Arm kann links lässig aus dem Fenster gehängt werden oder rechts das Öffnen der Chipstüte übernehmen. Statt dem gnadenlosen Nahkampf auf der bundesdeutschen Autobahn, wo deutsche Männer mit Golf GTI, BMW oder Porsche bewaffnet den Endkampf um die Überholspur und die unbegrenzte Geschwindigkeit mit der Lichthupe austragen, herrscht auf dem highway ein kollektives gleichmäßiges Dahinströmen in der Fahrzeugflut. Im endlosen Gewirr der freeways von Los Angeles - einer Stadt, die alle postmodernen Theoretiker in Begeisterung ausbrechen lassen müßte, weil sie wirklich keinerlei Zentrum, schon gar kein historisches besitzt, sondern nur aus der Struktur ihrer entrances und exits, ihrer An- und Abfahrtswege, besteht - in Los Angeles lautet die Spielregel: „Just drive safe and easy!“ Die Geschwindigkeit ist begrenzt, die Entfernungen aber sind fast unendlich; also verbringt man die Hälfte des Tages im Auto. Dort macht man es sich so bequem wie vor dem Fernseher (vor dem die andere Hälfte des Tages verbracht wird). Dieses sechsspurige highway-Leben hat etwas Schlafwandlerisches - als fahre man gar nicht wirklich selbst, sondern schwimme einfach mit in diesem gigantischen, das ganze Land überziehenden Autofluß. Manchmal, bei besonders gelungenen Choreographien, war ich versucht an der Unterseite der Blechrevue nach einem verborgenen Zahnrad zu suchen, das alle mit allen verbindet.

Hat man erst einmal die Städte verlassen, greift unvermeidlich die Kinoassoziation. Unter den Bildern, die beim Fahren so intensiv empfunden werden, liegt ein Erinnerungssediment, in dem sich Abertausende von Filmbildern abgelagert haben. Das Auto fährt wie von selbst, läßt sich ohne die geringste Anstrengung mit der Fingerspitze lenken, was sowieso kaum noch nötig ist, da die Straße meist schnurgeradeaus führt. Die Richtgeschwindigkeit von 55 Meilen oder 65 wird von der cruise control reguliert. Und die obligate aircondition beseitigt das letzte bißchen Außenwahrnehmung. Isoliert wie die peanuts in ihrer Vakuumverpackung, gleitet man dahin. Der Fahrer wird zum Zuschauer. Bald räkelt man sich im Kinosessel. Und plötzlich ertappt man sich bei dem blasphemischen Gedanken, daß die unermeßlich weite Landschaft zu nichts anderem bestimmt sei, als durch sie hindurchzufahren. Wandern oder Radfahren passen einfach nicht zu den Dimensionen und kommen im Sommer einer gefährlichen Expedition gleich.

Besonders in den heißen, wüstenähnlichen Gebieten wird das gekühlte Auto zum scheinbar natürlichen Schutzraum des Menschen. So hält man Distanz zu einer unkomfortablen Natur, sieht nur, wie der Bildausschnitt sich langsam verändert, wie Berge auftauchen oder Wolkentürme oder ganz da hinten ein Regenbogen. Riechen tut man nichts. Nur die Augen berühren die Außenwelt. Die stundenlangen Fahrten durch die Landschaft sind nie langweilig und von hohem Abstraktionsgrad, der sowohl Meditation als auch Euphorie einschließt.

Die klassische Route führt von der Ostküste mit ihren intellektuellen Zentren in den Westen an die Goldküste des gelobten Landes Kalifornien. Diese Reise ist heute fast schon so legendär wie die unter europäischen Künstlern im 18. und 19. Jahrhundert übliche Befreiungsfahrt von Nord nach Süd über die Alpen ins sinnliche Italien. Aber da beginnt der Vergleich auch schon zu hinken. Denn von New York nach San Francisco sind es knapp 4.500 Kilometer. Auf den europäischen Kontinent übertragen, müßte man von der Nordküste Schwedens bis nach Kairo fahren, um eine Vorstellung der Entfernungen zu bekommen. Motel 6

Schon das normale Autofahren bringt ungeahnte Möglichkeiten. Gilt doch in diesem Lande der in der Verfassung festgefahrene Grundsatz: Steige für nichts und niemanden aus deinem Blechhaus aus. Die Erfindung des Motels ist eine Amerikanisierung des Hotels für den autofahrenden Menschen. Direkt an den großen highways kann man übernachten, ohne mehr als zehn Schritte zum Bett oder Pool zu gehen. Dank ihrer großen Beliebtheit sehen diese Motels auch keinesfalls mehr so bedrückend aus wie die von Anthony Perkins verwaltete Herberge in Hitchcocks Psycho. Allein „Motel 6“, eine über das ganze Land verbreitete Billigkette, wirbt für 500 Dependancen mit 58.000 „freundlichen“ Zimmern. Alle sind - vom bereitliegenden Seifenstückchen bis zum Muster der Bettdecke - gleich eingerichtet, gleich sauber, gleich gekühlt.

Überflüssig zu erwähnen, daß man auch das Essen beim drive thru ins Auto gereicht bekommt, das mit einem großen Aufwand an Styroporbechern, Deckeln, Folien und Tütchen für Zucker, Salz, Kaffeeweißer, Ketchup und Zitronensaft ganz im Auto zu essen ist. Trucks, Trucker und Legenden

Da dieses riesengroße Land aber nur durch das Straßennetz, das zum größten Teil in den vierziger Jahren mit Mitteln des Verteidigungshaushalts errrichtet wurde, und durch Schienen und Wasserwege keine Konkurrenz mehr hat, erschlossen ist, wird auch der Gütertransport überwiegend auf dem highway abgewickelt. Kaum ist die Bewunderung zu verbergen, mit der man den gemächlich dahinziehenden Trucks nachschaut. Silbern glänzen die langen Züge mit den zu Schornsteinen aufgebogenen Auspuffrohren im Licht der Wüstenlandschaft. Nachts tauchen sie wie beleuchtete Lindwürmer aus dem Nichts der Dunkelheit auf. Seltsam sicher und unbeirrbar, wie aus einer längst vergessenen Saurierwelt, ziehen sie dahin Trucks und Trucker, eine nie endende Werbekampagne für die reinste aller Männerwelten. Die Legenden, die sich um die einsamen Fahrer und ihre superstarken Züge ranken - deren phallische Signalwirkung kaum zu leugnen ist - machen sie zu den letzten Helden Amerikas.

Und weiter fährt man den highway entlang, bis die billboards, die Reklametafeln, fünf Meter lang und immer taghell beleuchtet, für etwa sechs Sekunden - so hat man errechnet - die Aufmerksamkeit der Vorbeifahrenden auf sich ziehen. So schnell ist man verführt. Sie werben und locken für alles und nichts. Wie wär's mit einem Abstecher nach Little America? Was verbirgt sich wohl hinter diesem Namen? Ein Museum? Ein altes Dorf? Nein: der größte Autostopp der USA mit sagenhaften 50 doppelseitigen Benzinsäulen und angeschlossenem Restaurant, Souvenirshop und Motel - das ist Little America. Susanne Raubol

Vorabdruck aus dem Buch „Go West - Kalifornien und der Südwesten“, ElefantenPress-Verlag, Berlin