Der Bauer und die Glühbirne

■ „Frühe sowjetische Photographie 1917-1940“ - eine Ausstellung in Krefeld

Können Fotos lügen? Sind sie von vornherein nur eine Verfälschung der Wirklichkeit, nichts weiter als deren verzerrtes Abbild? Ein visueller Schwindel, den der Fotograf durch die Wahl der Perspektive oder im Festlegen des Ausschnitts bereits während der Entstehung der Fotografie bewußt vornimmt? Die Frage stellt sich vor allem dann, wenn offenkundig ist, daß die Fotografie als Instrument politischer Einflußnahme genutzt wird. Die frühe sowjetische Fotografie im Anschluß an die Oktoberrevolution ist von revolutionären Themen bestimmt, die politischen Propagandabilder dominieren und wollen auch gar nicht verbergen, welchen Zweck sie erfüllen sollen. Neuerdings ist dennoch das Interesse für diese Revolutionsfotografie erwacht. Plötzlich gibt es auch im Westen ein Publikum, und das merkwürdige daran ist, daß sich gerade diejenigen auf Alexander Rodtschenko und seine Kollegen stürzen, die vor einigen Jahren wahrscheinlich kaum etwas von den Bildvorstellungen sowjetischer Fotografen hätten wissen wollen.

Etwas grotesk ist es schon, wenn man sich in Krefeld zum Museum am Karlsplatz begibt. Eine Architektur empfängt den Besucher, die völlig im Gegensatz steht zu der Ausstellung Frühe sowjetische Photographie 1917-1940. Eine Statue von Kaiser Wilhelm - etwas bemoost schon, aber noch immer imposant - scheint darauf zu warten, daß der Besucher innerlich strammsteht, und auch das Gebäude versucht eher einzuschüchtern als einzuladen. Innen überläßt eine Treppe, die zunächst geradeaus heraufführt, dann aber nach rechts und links abgeht, den unsicheren Gast mit der Entscheidung allein, wo er beginnen soll.

Wer den linken Aufgang wählt, landet mitten unter den Porträtfotos der Revolutionsgrößen, also im Zentrum dessen, was man sich unter politischer Instrumentalisierung des Mediums vorstellt. Lenin am ersten Jahrestag der Oktoberrevolution auf dem Roten Platz. Mit dem rechten Arm stützt er sich am Rand der Tribüne, den linken lehnt er lässig auf die Brüstung und spricht in die Menge. Eine fast pathetische Aufnahme, durch die Unterperspektive mutet Lenin noch überhöhter an. Aber die Fotos von Aufmärschen, Delegationen, Revolutionsführern wirken überhaupt nicht manipulatorisch. Wenn es stimmt, daß die Auswahl der 160 Fotografien repräsentativ ist und die eindeutigen Propagandamotive nicht einfach ausgesondert wurden, ist die Überraschung perfekt. Keines dieser Bilder schafft es, irgendwie den Eindruck der Indoktrination hervorzurufen. Oder sind wir es, die plötzlich mit einer veränderten Auffasung vor den gerahmten Abzügen stehen und nicht mehr wissen, was wir sehen sollen?

Selbst bei eindeutigen Hinweisen auf die politische Funktion der Bilder trifft der Begriff der Manipulation nicht mehr. „Kommunismus besteht aus der Macht der Sowjets plus Elektrizität“, hatte Lenin gesagt, und Arkadiy Schajchet hat die passende Arbeit dazu abgeliefert. Ein Bauer in schlichtem Leinenhemd schraubt in seiner ärmlichen Hütte eine Glühbirne in die Fassung. Mit einer Hand hält er den Draht, mit der anderen berührt er vorsichtig die zerbrechliche Birne. Die Bäuerin mit Kopftuch und Schürze schaut ihrem Mann zu. Das alles zeigt das Bild, aber den Sinn legt der Betrachter hinein, und der war bisher von Skepsis geprägt. Eine Auftragsarbeit mag er darin gesehen haben, die von dem Ziel bestimmt war, die Kampagne zur Elektrifizierung bis ins letzte Dorf zu untersützen. Aufklärungsfotografie. Die Kamera als Waffe an der Revolutionsfront. So mögen die Bilder auf viele gewirkt haben. Mit der Öffnung in der Sowjetunion hat sich auch unsere Sichtweise geändert. Vielleicht ist es nur Wunschdenken, aber könnte das Foto mit dem Bauernehepaar nicht bereits den Keim der Kritik in sich tragen? Der zögerliche Handgriff des Bauern an der Lampe könnte auch ein ungläubiges Ticken gegen den Leuchtkörper sein - sein Argwohn gegen die ungewohnte Technik. Und ist der Blick seiner Frau nicht alles andere als begeistert?

Plötzlich bekommen auch die Fotos von Alexander Rodtschenko, der die Alltagswelt in bedrohlichen Perspektiven, schwindelerregend gekippt oder extrem von unten und oben aufgenommen hat, einen kritischen Sinn. Wer will, kann jetzt in ihnen die Unsicherheit der Menschen angesichts der neuen Zeit und die Instabilität des jungen Systems ablesen. Rodtschenko zerstört die alte Sehweise der Massen, nimmt ihnen den beschaulichen Blick und zwingt sie, die gewohnten Dinge neu zu betrachten. Er beschleunigt die Sicht auf die Dinge, indem er diagonale und stürzende Perspektiven sucht, so wie die Industrialisierung die Geschwindigkeit zum Motor gesellschaftlicher Veränderung erhebt.

Bleibt noch die Frage, ob diese Bilder tatsächlich ideologisch belastet sind. Nicht die Bilder selbst lügen, sondern die Geschichten, die darum aufgebaut werden. Natürlich läßt sich die Bedeutung der Fotos verändern. Schon eine Unterzeile genügt, um den Bauern mit seiner Glühbirne ins Gerüst kommunistischer Planerfüllung einzuspannen. Und nur ein Gedankensprung reicht aus, um das Bild als Dokument früher Gesellschaftskritik zu interpretieren. „Die Macht des Bildes liegt in seiner Unmittelbarkeit“, hat Gisele Freund gesagt und vor dieser Wirkung gewarnt, weil die Überzeugungskraft der Fotografie von denjenigen ausgenutzt wird, die sich ihrer als Instrument der Manipulation bedienen. Sehen lernen heißt also auch, den Blick zu schärfen für die in den Bildern enthaltenen Botschaften, die nahelegen wollen, daß es nur eine einzige mögliche Sicht gibt.

Die Ausstellung in Krefeld zeigt, wie die Aussage eines Bildes über die Jahre ständigen Veränderungen unterworfen ist. Da viele der sowjetischen Fotografen mit Plattenkameras und großen Negativformaten arbeiteten, bestechen die Aufnahmen auch heute noch durch ihre Brillanz und Schärfe. Abseits aller technischen Perfektion leben die Aufnahmen von einer nicht sichtbaren, unterschwelligen Spannung. In der Aufnahme des bäuerlichen Ehepaars glaubt man, jeden Augenblick den Strom durch das Kabel in die Glühdrähte fließen zu sehen und schon den Lichtschein zu ahnen, der sich auf den erstaunten Gesichtern der Bäuerin und des Bauern abzeichnen wird.

Christof Boy

„Frühe sowjetische Photographie, 1917-1940“, Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld, bis zum 29.April. Katalog (viersprachig): „20 sowjetische Photographen“, 39,50 DM.