Deutsche Frage als Gipfelthema

Themen des auf Ende Mai vorgezogenen Gipfels Gorbatschow/Bush sind START und Gesamtdeutschland  ■  Aus Washington Rolf Paasch

Zwischen Neutralität und Nato-Mitgliedschaft, dort irgendwo liegt für die Sowjetunion die zukünftige Position eines wiedervereinigten Deutschlands. Dies machte der sowjetische Außenamtssprecher Gennadi Gerassimow am Rande der Gespräche zwischen seinem Chef Eduard Schewardnadse und dem amerikanischen Außenminister James Baker am Donnerstag in Washington deutlich.

Eine Nato-Mitgliedschaft des neuen Gesamtdeutschlands, so Gerassimow, sei für Moskau unannehmbar, weil dadurch die Lage Europas aus dem Gleichgewicht gebracht werde. Wie verhindert werden solle, daß von einem vereinigten deutschen Staat noch einmal eine Gefahr für seine Nachbarn ausgehen wird, ließ er offen. „Wir glauben, Neutralität ist eine der Antworten, aber wir schließen andere Möglichkeiten nicht aus“, deutete Gerassimow eine größere Flexibilität der Sowjetunion in der deutschen Frage an. „Die sowjetische Seite“, so vermutete ein Beamter des US-Außenministeriums, „scheint gerade damit beschäftigt zu sein, in dieser Frage ihre neue Position zu ent wickeln“.

Die USA und die Sowjetunion hatten am Donnerstag bekanntgegeben, daß sich US-Präsident George Bush und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow vom 30. Mai bis zum 3. Juni in den USA treffen wollen. Das zuerst für Ende Juni angesetzte Treffen der beiden Supermächtigen wurde offenbar vorgezogen, um Präsident Gorbatschow die Möglichkeit zu geben, sich auf den am 19.Juni 1990 beginnenden 28.Parteikongreß der Kommunistischen Partei vorzu bereiten.

Außenminister Schewardnadse übergab Präsident Bush am Freitag einen Brief von Michail Gorbatschow, in dem der Kremlchef offenbar Vorschläge zum weiteren Verlauf der Verhandlungen über die Abrüstung der strategischen Atomwaffen (START) macht. Ursprünglich hatten Bush und Gorbatschwo den START-Vertrag bei ihrem Treffen Ende Juni bereits unterzeichnen wollen. Nach dem Vorziehen des Gipfels auf Ende Mai ist jedoch nicht einmal klar, ob dort eine grundsätzliche Einigung über den START-Vertrag hergestellt werden kann.

Strittig ist auf amerikanischer Seite vor allem noch die Mitaufnahme neuer Beschränkungen für Atomkraketen mit Mehrfachsprengköpfen in den START-Vertrag, wie sie von einigen Kongreßabgeordneten gefordert wird. Die sowjetische Seite will dagegen den START-Vertrag erst unter Dach und Fach bringen und die Frage dieser Raketen in einer sich gleich anschließenden zweiten START-Runde verhandeln.

Neben der deutschen Frage, den Abrüstungsverhandlungen und der politischen Situation im Baltikum hatte Schewardnadse bei seinem derzeitigen USA-Besuch mit Außenminister Baker auch über Lösungen für die verbleibenden Regionalkonflikte in Afghanistan, Angola und Kambodscha diskutiert.