Radiosoziologie im Kommen

■ Wirksamkeit der Hörerforschung hängt davon ab, inwieweit Produzenten andere Maßstäbe für sich annehmen /Nach dem heißen Herbst Aufwärtstrend beim Radio-Hören, aber für Westsender

Ich habe nie begriffen, warum die Grußsendungen an Oma X und Onkel Y Publikumsrenner des Regionalhörfunks sein sollen. Das Argument der Programmacher war jedoch immer eindeutig: Der Postberg in der Redaktionsstube. Wer aber außer den Gegrüßten und den erbschleichenden Gratulanten sollte Interesse an den intimen Grüßen Dritter haben? Hätten sich die Programmstrategen ernsthafter mit den empirischen Belegen einer soziologischen Hörerdiagnostik befaßt, wäre ihnen klar geworden, daß der Postberg einer Minderheit nicht das Votum der Hörer ist.

Der DDR-Rundfunk hat sich zwar in der Vergangenheit den „Luxus“ geleistet, eine soziologische Forschungsabteilung in der Nalepastraße zu halten. Aber die Wirksamkeit solcher Hörerforschung hängt eben davon ab - wie der jetzige Leiter Dr. Peter Warnecke meint - inwieweit diesem Instrument getraut wird und inwiefern die Hörfunkproduzenten in der Lage sind, ihre eigenen Maßstäbe zu relativieren und Außenmaßstäbe für sich anzunehmen. „Anders als beim Fernsehen“, so Warnecke, landeten die Befunde der Soziologie zwar nicht ausschließlich in den Leiterschubläden, aber der Umgang mit Hörerdaten war von Redaktion zu Redaktion unterschiedlich.

Gute Kontakte hatten die Rundfunksoziologen zu Redaktionen wie der Wissenschaftsabteilung von Radio DDR II oder Jugendradio DT 64. Die Leiter der Rundfunkzentrale waren dagegen eher daran interessiert, sich mit Zahlen die Entscheidungen der Chefetage bestätigen zu lassen. Nach der Wende ist hierzulande die Mediensoziologie im Aufwind, wenn auch dieser Wind den Programmachern stark ins Gesicht bläst.

Ende Januar hatte eine Befragung ergeben, daß es nach dem heißen Herbst einen Aufwärtstrend beim Radio-Hören gibt Den westlichen Stationen schlägt dieser Bonus zu Buche. Während noch vor einem Jahr ein Drittel der Befragten ihre Radio-Vorliebe unter der verschämten Spalte „andere Sender“ (konkreter durften die Interviewer das West-Hören nicht benennen) vermerkten, hatten diesmal mehr als 40 Prozent ohne Umschweife einen Westsender als den „ihren“ genannt.

Wie gern hätten die JournalistInnen erfahren, daß ihnen die Wende hin zum freien Journalismus gelungen sei! Doch das Mißtrauen und die Gewohnheit der Hörer sitzen tief. Was den Machern in der Nalepastraße jetzt auf die Füße fällt, ist die halbherzige Programmreformierung in den vergangenen Jahren. Die Soziologen können nachweisen (wie in einer Studie vom Januar dieses Jahres), daß Radio als Massenmedium nur dann eine Chance hat zu expandieren, wenn es nah an die Lebensumstände und Bedürfnisse der Hörer herankommt. Nähe im wörtlichen Sinne erfordert eine generelle Regionalisierung. Statt mosaikartiger Regionalprogramme wollen die Hörer regionale Sendungen mit einem eigenständigen Angebot an kommunalen und überregionalen Informationen.

Hörerfern ist die Auffassung, Radionutzung richte sich streng nach den Inhalten der Information. Vielmehr ist ein bestimmtes Musikinteresse, der Stil und die Ausführlichkeit der Informationsgebung entscheidend für die Hinwendung zum Radio-Programm.

DDR-Befragungen haben außerdem ergeben, daß es vier relativ stabile Hörertypen gibt: Die Rock/Pop-Interessenten; Volks-, Schlager und Tanzmusikkonsumenten; die Interessenten der ernsten Musik und eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe, die sich nur wegen der gebotenen Informationen dem Radio widmen. Die Programmstruktur des DDR-Hörfunks entspricht dieser Typologie lediglich in Ansätzen, und die Hörerzahlen werden wohl weiter sinken, wenn sich niemand nach solchen Erkenntnissen richtet.

Hörerforschung bekommt in Zukunft noch einen ganz besonderen Auftrag: Die gewerbetreibende Industrie, sprich: die Werbekunden, sind an harten Daten über die „Hörerreichweite“ der einzelnen Sender interessiert. In der Bundesrepublik gibt es dafür eine AGMA, die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse, in der ein einheitliches Befragungsmaß, quasi eine gemeinsame Währung, geschaffen wird, das für vergleichbare Ergebnisse sorgt. Dieses Instrumentarium soll nun auch in der DDR-Rundfunk-Soziologie Standard werden, zur Zeit läuft eine erste Analyse. Auch in eine fünfjährliche Intervallstudie zur generellen Mediennutzung klinkt sich die Hörerforschung ein. Für das eigene Haus will sich die kleine Soziologengruppe immer stärker „programmfundierend“ engagieren, das heißt: Angaben liefern, die den Funkproduzenten Ansatzpunkte für neue Inhalte liefern. Wer verhindern will, daß mit Themen wie der Ökologie ein neuer Schlagwortjournalismus entsteht, muß mit dem feed-back der Hörer arbeiten. Hörerforschung kann eben nicht Luxus, sondern muß Handwerkszeug der RadiomacherInnen werden.

Til Thomas