SO EIN TOLLER TAG!

■ Wie es war, als am letzten Samstag der Grenzübergang Brunnenstraße aufgemacht worden ist

Ich hätte es wissen müssen: Als ich um halbzehn mit nüchternem Magen in die „Brunnen-Quelle“ (Brunnenstraße -West) renne, um einen Kaffee zu bestellen, grinst mich der Weddinger rechts an der Theke mit Bluthochdruckgesicht mitleidig an: „Bei uns gibt's heute zum Frühstück nur Bier, Meister“ und reibt Daumen und Zeigefinger. Draußen ist Volksfeststimmung, weil in ein paar Minuten der neue Grenzübergang eröffnet wird. Überall sind Buden aufgebaut und Verkaufsshows werden inszeniert. Die Mauer, das sehe ich erst, als ich später längst im Osten stehe, ist rechts und links weit in die Bernauer weggerutscht. Das Möbelhaus Höffner verschenkt an kleine Kinder Luftballons mit der Aufschrift „Let's go!“, und zwischen die Stände hat das Bezirksamt Wedding seine „Rollenden Sprechstunden“ gequetscht, wo Amtsgehilfen den Ostlern gleich bunte Prospekte zum Thema Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe und „Berlin für junge Leute“ in die Hand drücken werden. Auch das Gartenbauamt ist mit von der Partie und versucht, die bunten Blumengeschenke vor West-Hausfrauen zu retten. Cowgirls mit Freiheitszigaretten halten sich im Hintergrund und frieren. „Ich komm heut nacht vorbei“

Draußen vor der „Brunnen-Quelle“ probt Herr Goldkuhle. Zum Verkauf seiner „20-Mark-Tüte mit Westfälischen Wurst- und Schinkenspezialitäten“ hat er sich ein Mikro umgeschnallt. Mit einer Stimme, die man sonst nur aus Schießbuden und aus Stripläden kennt, macht er Hausfrauen auf seine Würste scharf: „Lecker, lecker, lecker, hier bei mir. So komm her, wir machen noch ein Tütchen voll. Hahaha. Na mit Würsten, was denn sonst. Nix was Du denkst. Und achtgeben. Einmal Landsalami, komm mal her. Und rin in die Tüte. Und es bleibt bei 20 Mark. Eine leckere Bierwurst, kommt auch mit dazu. Und es bleibt bei 20 Mark. So, dann machen wir noch einen Knacker. Bleibt bei 20 Mark. Komm her. Schinkenblockwurst pack ich mit drauf. Bleibt bei 20 Mark. Und der Avus-Ring ist gratis dabei. Alles für 20 Mark. Los Luise.“ Kundin: „Ismirzuviel. Bindochganzalleinstehend.“ Goldkuhle: „Dann gib mir deine Adresse, ich komm heut nacht vorbei. Ist bald Ostern, dann machen wir Eiersuchen mit Wurst.“ Sie kauft nicht. Um Goldkuhle rasen alte Kutschen, in denen man ein Rundfährtchen machen kann. Bei Tschibo gibt's endlich auch Kaffee. Der Autopflegemittelvertreter und Tempo-100-Gegner und Tempo-30-Gegner und Anti-Havelchaussee-Autonomer wienert ein letztes Mal seinen roten BMW, damit die Trabiraser von seinem Spezialglanzautoshampoo nachher überzeugt sind.

Gegen Goldkuhle setzt sich nur die Ost-West-Dixie-Band durch, die auf einer kleinen Bühne direkt vor der ehemaligen Mauer Down by the riverside spielt. Spätestens jetzt ist klar, daß die als Mauerdurchbruchs-Volksfest getarnte Verkaufsshow Weddinger Krämer eine SPD-Wahlveranstaltung im Momper-Swing ist. Hier haben die Sozis Heimspiel. Vor einer Berlinsilhouette mit Ost-Fernsehturm und rosarotem SPD-Logo bläst die Combo gegen die „Blas-Mix-Berlin“ aus Pankow auf der Ost-Straßenseite und deren Dynamit-Verstärker an, die aber mit Songs wie Adelheid, Adelheid, schenk mir einen Gartenzwerg sowieso nicht im Trend liegen. Eher ist da die BVG-Kapelle eine Gefahr. Die spielen „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“ und treffen damit den Nerv der Massen. Die Freibierbude daneben ist bumsvoll. Ebenso der Kartoffelsuppenstand. Grabschmuck

für den Bürgermeister

7. April 1990, zehn Uhr. Die Stimmung steigt ein wenig, als Bezirksbürgermeister Spiller und sein Ost-Kollege Fahl aus Mitte mit Händedruck den Übergang einweihen. Ab jetzt gehören der Wedding und Berlin-Mitte wieder zusammen. Die direkte Verbindung zwischen dem traditionellen Güterstandort im nördlichen Bezirk und dem traditionellen Güterverbrauchsort Alexanderplatz ist wieder hergestellt. Die Brunnenstraße fällt ins Zentrum hinunter. Das Urstromtal verschluckt wieder Märkischen Sand. Etwas dramatischer verkauft klingt das so: „Liebe Weddingerinnen und Weddinger (...) die Brunnenstraße, bis zum 13. August 1961 eine der Hauptverbindungsadern zwischen Wedding und Mitte, wird von der Mauer nicht mehr durchtrennt. (...) nicht das Trennende wird markiert, sondern das Verbindende (...) keine Schranken der Abgrenzung (...) Zusammenwachsen Berlins (...) Chancen und Risiken (...) unser Wedding.“ „Jawolll!“ brüllen ein paar Ostler und stürmen die Buden, Läden und Bierstände. Der Französische Stadtkommandant grinst mißtrauisch. Jemand aus der Verwaltung muß Spiller hassen, denn die kleine Rednerbütt hinter der Spiller spricht, ist mit grabschmuckartigen Pflanzen dekoriert. Macht aber nichts. Im Gegenteil. Spiller war sowieso kaum zu hören. Goldkuhle hat mit Bierverstärker zum Verkaufsgespräch voll angesetzt.

Drüben, keine 50 Meter weiter, in der „Brunnen-Quelle“ (Brunnenstraße-Ost) ist man um die gleiche Zeit schon weiter. Drei Grepos platzen mit roten Schnapsnasen aus der Kneipe. Drinnen ist Klarer angesagt. Von der vielgelobten Hausordnung in den DDR-Kneipen keine Spur. An einem Vierertisch sitzen sogar sieben in Mänteln. Fleischermeister „Eder“ aus Berlin-Mitte verkauft auf der Straße Pfannenfleisch „Bonanza“ und Bratwürste mit und ohne Darm, so fett, daß einem schon beim Hingucken schlecht wird.

Zusammen mit der pudellockigen Hobby-Zuhältertruppe aus der Müllerstraße und arbeitslosen Grenzpolizisten halten direkt neben der weiblichen Rot-Kreuz-Truppe, Sektion Ost, zwei junge Mormonen nach verlorenen Ost-Seelen Ausschau und bedeuten, daß das Leben einfacher ist, wenn sie das Buch Mormon gelesen haben. Als die Mormonen die im Gegensatz zu der mausgrauen West-Konfektionstruppe viel jüngeren und zackiger gekleideten Ost-Mädel vielweibisch anmachen, stürzen die Müllerboys mit den Grepos Rotkäppchen und rempeln: „Seit acht, echt breit, was!“

Als Walter Momper bei der BVG-Kapelle gesichtet worden ist, startet die Polit-Verkaufsshow: Die Band hat das Waschbrett in die Ecke gelegt. Jemand hat dem einsam kämpfenden CDUler („Mit unserem Elmar Pieroth in ein neues Wirtschaftwunder“) den Saft leiser gestellt. Am CDU-Wahlkampftisch verteilen die Parteidiener mit gesenktem Blick so schweigsam lahmarschig Zeitungspapier, als hätten sie faule Fische drin verpackt, und blasen wie Büßer blaue Luftballons für Kleine auf. Auf der großen Bühne beginnt währenddessen das „Stadtgespräch“. Es wird so schweres Geschütz aufgefahren, daß einige gleich zum nächsten Schultheiss-Stand gehen: Finanzchef Meisner, Wissenschaftssenatorin Riedmüller, Innensenator Pätzold, Kultur-nein-Anke, Ost-SPD-Prominenz Toni Sowieso mit Ost-Freunden Sowieso und natürlich der Chef persönlich, Walter Momper, als „Einer von uns“ verkleidet. Auf der Achse Paris-Moskau

Die Polit-Verkaufsshow gleicht einem hausbackenen Werbefilm für Anti-Aids-Präser: Ines ist schuld - Vor Helga schützen nur Kondome - Ich muß mit Marion darüber reden. Zuerst muß Pätzold ran. Ein solcher Moment bewege ihn zutiefst. „Gerade ich als Weddinger.“ Pätzold geißelt die Vergangenheit. „Wir haben sehr unter dieser Mauer gelitten. (...) Wir haben erlebt, wie die Menschen hier aus den Fenstern in den Tod gesprungen sind. (...) Zusammenwachsen...“ Bei soviel Aufregung müsse jetzt mit „Grundphilosophie“ geglättet werden, meint Knut Herbst, Wahlkampfleiter der SPD-Ost. Nach den „Schweizer Käse„-Prinzip müssen immer mehr Löcher in die Mauer gehauen werden, bis am Ende nichts mehr da ist als Berliner Luft. Auch hier Zusammenwachse... Manfred Becker, Mitglied des Ost-SPD-Beziksvorstandes, ist da noch nicht soweit. Er rechnet erst noch mal ab. Das zieht wieder die Bierkämpfer vom Tresen: „Ich grüße Euch aus Lichtenberg, (...) von dort, wo die Hauptgeschwulst des Krebses, der die DDR überzogen hat, saß, dem Ministerium für Staatssicherheit.“ Dann macht er auf Böhme-Syndrom: „Auch ich wurde verdächtigt, ein Mitarbeiter dieses Instituts zu sein. Herzliche Grüße aus Lichtenberg.“ „Manne, Manne!“ Global muß jetzt der Finanzsenator retten: „Das ist eine schwierige Sache“, und er rechnet vor, daß Geldumtausch 1:1, Starthilfe und gute Laune den kommunistischen Saustall ausmisten und wieder auf Vordermann bringen werden. Nach Bonn droht er: „Nicht betrügen!“ und „Zusammenwachs...“ „Zusammenwach... durch Bildung.“

Für Barbara Riedmüller ist die Uni-Frage keine Frage. Über Präser spricht man nicht bei Nonnen, über Unis nicht vor Prolos. Danke, Frau Seel. Gerade das hat Kultur-nein-Anke wieder verschlafen. Mit einem Avon-Beraterinnen-Lächeln erzählt sie von der Kulturweltstadt Berlin. „Was wir hier in Berlin als Kultureinrichtungen haben, ist weltweit einmalig. Wir werden drei Opernhäuser haben. Nur zweieinhalb gibt es in Moskau. Wir werden sieben große Theater haben. Das gibt Berlin weltweit einen kulturpolitischen Rang, den man sonst weltweit nirgendwo findet. Bestenfalls auch wieder in Paris, London oder New York. Wir werden eine Fülle von Museen haben, die ihre Bestände weltweit präsentieren können. Wo wir uns auf der Welt umgucken, gibt's sowas nicht. Aber das ganze ist natürlich waaahhhnsinnig teuer in der Unterhaltung. (...) Das geht in die Milliarden! (...) Wir haben die Chance, auf der Achse Paris-Moskau im kulturellen Mittelpunkt zu stehen. Zusammenwac...“ Amen-nein-Danke. Als ihre Kollegin aus dem Osten ihr von der Kultur der kleinen Leute erzählt, gefriert Kultur-nein-Anke ihr Lächeln. Jetzt war ihr wieder das Wort „dezentral“ eingefallen. Scheiße, zu spät. Der Finanzsenator flippt aus

Dann, unter Fanfaren, kommen Toni Sowieso, Oberbürgermeisterkandidat aus dem Osten, und Walter Momper dran. Als Momper loslegt, greift die Ost-West-Rep-Truppe erstmals lautstark ein. Für Momper ist das ein toller Tag, alles wächst schneller zusammen als er denkt, sagt er. Das Wetter sei schön, so Momper. Sein Auftritt gipfelt mit der SPD-Regionalvision: „Wenn der Bezirk Wedding und Mitte wieder sichtbar zusammengewachsen sind, dann können wir wirklich sagen, wir haben etwas zur Geschichte beigetragen. Ich bin so froh und glücklich auch an einem solchen Tag, daß wir das miterleben können.“ Martiny ist sichtlich gerührt. Meisner klatscht wie verrückt, so emotional habe ich ihn noch nie erlebt. Weddinger und Mitter brüllen „Bravo, bravo, bravo“ und Mompers Pausbacken rutschen noch ein Stück höher. Er erinnert an Buddha. Was ist dagegen schon Helmut Kohls Ähnlichkeit mit Bismarck.

Im ersten „Stadtgespräch“ ist erst mal Pause. Der Musikwettstreit setzt wieder ein. Momper und die Seinen machen sich auf den Weg rüber zum Fleischermeister „Eder“ aus Berlin-Mitte, um Wurst und Bonanzafleisch zu mampfen.

Im Osten wird irgendwie anders gefeiert. Seit sich die Grepo-Schnapsnasen ganz unter die roten Lampen der Ost -„Brunnen-Quelle“ zurückgezogen haben und „Eders“ Portionen wieder größer werden, da Momper sich an die zweite Verkaufsrunde „Statt-Gespräch“ macht, ist die Stimmung gedämpft. Man hockt in der Sonne und döst. Der Leierkastenmann leiert. Ein paar Jugendliche spielen auf dem Gehweg im Quartett Mozarts Kleine Nachtmusik. Auf dem Grenzstreifen verkauft Ingomar Nitschke selbstgeschossene Ost-Fotos von der Brunnenstraße aus dem Jahre 1971, mit Blick nach Westen. Nitschke wohnt direkt am Übergang. Jetzt ist er leicht sauer, wenn er an den Rummel denkt, der tagtäglich vor seiner Haustür entstehen wird: „Mit die Ruhe ist det ein für allemal vorbei.“

rola

Der Übergang ist Tag und Nacht geöffnet.