Führerbunker und Platons Höhle

■ Wir alle sind aus den Höhlen gekommen und jeder kommt aus einer. Manche wollen noch bei Lebzeiten in sie zurück

Hans Blumenberg

Sitzenbleiben in der Höhle ist so etwas wie die Gattungsgefahr, deren Übersetzung ins Mythische wäre, Adam hätte nicht gottgleich zu werden Lust gehabt und im Paradies zu bleiben vorgezogen - keine „Kultur“ wäre entstanden, man stelle es sich vor. Aber das Problem der Vertreibung von Langeweile im Überfluß brauchte nicht erörtert zu werden, es trat erst auf, als die Menschheit schon sehr alt geworden war. Doch gerade um die Zeit, als die nach dem französischen Aurignac benannte Altsteinzeitkultur ihre Hinterlassenschaft jener Mammutzahnstatuetten in Südwestdeutschland und die der ihrem Typus namengebenden Gräber von Cro-Magnon als Zeugnis einer „Erfolgskultur“ hervorbrachte, gleichsam rückwirkend ihren Urheber vom homo sapiens zum homo sapiens sapiens befördernd (was blieb noch übrig, als dieses voreilige Epitheton zu verdoppeln?) - um dieselbe Zeit des „Würmeises“ und der mit einer Kaltzeit verbundenen Herausforderung versagte der Höhlensitzer vom Neanderthal inmitten seines Hirnkomforts und Bewegungsmangels, infolge Erschöpfung des allzu nah Erreichbaren und starb mit dem Ende der letzten Eiszeit trotz oder wegen seiner „voreiligen Kulturleistungen in Kleidung, Gerät, Bestattungsform, Tieropferkult, Malerei am Nachkommenmangel schlichtweg aus. Die Mütter, die die Kulturstifter vor den zur Nahrungsbeschaffung antreibenden Vätern zu schützen hatten, konnten sie vor Hirnschalengröße nicht einmal mehr gebären.

Noch Platos Mythos spiegelt das Sitzenbleibertum. Es fällt ihm leichter zu erklären, weshalb man sich der Zumutung zum Höhlenausgang erwehrte, als den „Faktor“ namhaft zu machen, der dagegen wenigstens den einen Widerwilligen befreite und ans Licht zerrte. Es mußte den „Staat“, der doch erst aus Philosophie gebaut werden sollte, schon zuvor geben, will man für die Emanzipationsgewalt gegen die Schattenbilder und die Verführer dahinter eine Instanz benennen, die so zu „erziehen“ befähigt sein sollte. Sonst fehlte es für die „Aufklärer“ an Erschließbarkeit, während die „Verklärer“ in der sokratischen Polemik ihren bewährten Namen haben. So schwer ist es, die Macht auch nur zu vermuten, die das Hockenbleiben beim Zeitvertreib - auch und erst recht bei dem der Kunst, wie Plato zu sagen wagt - nicht duldet.

Die Gleichzeitigkeit des Verschwindens des „einfachen„ Sapiens von der Szene mit dem Auftreten des „doppelten“ Sapiens sapiens auf ihr ist mehr als eine signifikante Koinzidenz, sowenig wie der handgreifliche Kampf ums Dasein beider auf grüner Heide. Was sich mit der Frage nach dem Faktor verbindet, dem Höhlenverlust oder Höhlenverzicht zuzuschreiben ist, muß als die „unplatonische“ Feststellung bezeichnet werden, daß der aus der Höhle Herausgezerrte mehr als einen ontologischen oder gar metaphysischen Vorteil errang, der ihn doch, in die Höhle zurückgekehrt, zur Ohnmacht und zur Lebensgefahr verurteilte. Der Fortgang der Menschengeschichte ließ das im Windschutz der Auslese herangewachsene Höhlenhirn links liegen und griff auf das Reservoir des minder Ausgereizten zurück. Der kritische Moment der Anthropogenese muß im Überschreiten der Schwelle bestanden haben, hinter der die Mechanismen der Evolution nicht mehr zu greifen vermochten. Und es waren die Gehäuse, welcher natürlicher oder künstlichen Art immer, die das bewirkten. Nicht so sehr, weil sie Schutz vor klimatischer und anderer Unbill gewährten, sondern weil in ihnen das Potential entstehen konnte, diesen statischen Schutz zu verlassen im Gehege einer transportablen „Kultur“ von Ausrüstung und Schmuck, den Insignien der Erkennbarkeit und Zugehörigkeit. Die Höhle konnte nur Episode sein. Sie gab zu erkennen, was den Menschen in seine „Sichtbarkeit“ neuerdings begleiten und ihm diese wehrhaft machen konnte. Was ich zu umreißen versuche, ist die Ambivalenz der Höhle: Sie lädt zum Bleiben und sie bemittelt zum Gehen. Der homo sapiens neanderthalensis war durch seine Zerebralität eingeweiht und eingewiegt in die Gunst des selbstverdankten Komforts, wie er nur im geschlossenen Raum bewahrt und genossen werden konnte. Die Motivation zum Höhlenausgang schwand im Maße der Begünstigung dahin, die Gnade der Rückständigkeit, alles noch „vor sich“ zu haben, war verloren.

Der Schwund der Disposition, sich den Härten der Realität auszusetzen und ihnen die Wonnen der Imagination „zum Opfer“ zu bringen, kehrt in der menschheitlichen Geschichte wieder, ist das Muster ihrer Schwellenentscheide. Mangel an Deutlichkeit der Linien, über die hinweg Raum zu gewinnen ist, erschwert wohl immer mehr die Erkennbarkeit dessen, worum es geht; doch ist auch das Moment des Mythos von weitester Gültigkeit, daß die geschlossenen Räume kaum je aus Übermut verlassen werden, der Druck vielmehr von innen kommen muß. Schon zur „Geschichte“ im engeren Sinn der nachweisbaren Bekundungen und Beurkundungen gehört, daß Neugierde treibt, noch bevor ein Neues lockt. Immer gleicht der Ausgang in den Raum - lange bevor dieser Name seine astronautische Konnotation bekommt - dem Ursachverhalt der Begriffsbildung: Der Übergang von der Imagination zum Begriff setzt Distanz, Ferne, Abwesenheit, Grenzüberschreitung voraus. Fähigkeiten zur Bewältigung von Lebensminderungen am Ort durch Ausweich- und Eindringbewegungen erfordern, daß der „leere Raum“ als Horizont der Möglichkeiten jenseits der Wirklichkeiten mitverstanden ist.

Kürzer gefaßt: Die Menschheit konnte nicht in den Höhlen bleiben, aber sie konnte auch nicht „einsehen“, daß ihr dies zum Verhängnis würde. Die Höhle ist nur die Metapher der Verführung zum Parasitismus der Kultur an der Natur. Die Nutznießer des umhegten Lebens waren es nicht, die die Höhle verließen; sie mußten aussterben und denen die Avantgarde des Evolutionszuges überlassen, die vielleicht den wieder ambivalenten „Vorteil“ hatten, gar nicht erst verzichten zu brauchen - so wie die seßhaften Bodennutzer immer wieder überrannt worden sind von den Nomaden, Wanderern und Reitern, die ihre Städte pflanzten und das Umland aussogen, bis es Zeit zum Weiterziehen oder zum Kolonisieren wurde. Es waren nicht identische Subjekte, die einen paideutischen „Weg“ gingen; es waren Formen der Ablösung, die nur stratigraphisch das Aussehen von Prozessen identischer „Kulturen“ annahmen. Der berüchtigte Kampf ums Dasein findet nicht nur im Handgemenge und mit Faustkleilen statt, nicht nur im Fressen und Gefressenwerden. Der Neanderthaler wurde nicht geschlachtet von denen, die ihn überlebten oder ausstachen. Im Gegenteil: Er blieb unterhalb des Niveaus der Sichtbarkeit sitzen, vergnügte sich zerebral, versäumte den Nahrungsschwund zu bemerken und versagte in der Proliferation. Darauf - man verzeihe mir die Trivialität, die sich so leicht vergißt - läuft immer wieder hinaus, was den erschreckenden und daher weidlich „kritisch“ ausgenommenen Begriff des Kampfes ums Dasein ausmacht. Muß ich so preiswert werden, mit dem Finger darauf hinzuweisen, daß es eine Kulturstufe gibt, auf der ein Fortbewegungsmittel rivalisiert mit der Lust zum Überleben?

Hier geht es nicht um die alten Geschichten, hier geht es um die letzte Geschichte, vielleicht auch nur die vorletzte

-denn wann hätte schon einer recht behalten, der vom „Letzten“ gesprochen hatte, einer der zahllosen Eschatologen, die von der Schreckhaftigkeit dieser instabilen Gattung nicht genug bekommen können?

Was die Höhlenbesitzer, die reell-prähistorischen wie die mythisch-metaphorischen, miteinander verbindet, ist die Abneigung gegen die „wirkliche Wirklichkeit“. Was die Höhlenflüchter, die reell-posthistorischen wie die eschatologisch-metaphorischen miteinander verbindet, ist die Sucht nach dem Ausgestandenhaben von „wirklicher Wirklichkeit“. Vor den Bildern verließ man sich, vor den Bildern findet man sich wieder; ob deren Qualität gewachsen ist, bleibt Sache des Geschmacks oder auch derjenigen Bedürfnislosigkeit, die den „echten“ Bedarf an der dafür zu erlegenden Leistung mißt. Der Kampf um die „Originale“ findet auf den Höhen der Unerschwinglichkeit von Auktionen statt, die häufiger Agenturen zu „Nachrichten“ stimulieren als Morde und Affären. Aber die Träume von der Rückkehr haben nichts zu tun mit der Realitätshärte der Rückzüge obwohl diese den Realitätsverlust begünstigen oder besiegeln und damit jenen den Weg freimachen. Es ist, als sei die Neugierde nie gewesen und als befriedige das Gebieten übers Imaginäre jedes Gelüst. Plato hatte recht, aber auch Aischylos, als er im Katalog der Angebote seines Prometheus an die Menschen in den Höhlen die Feuerkunst des Ziegelbrands und damit der höhlenäquivalenten Gehäuse setzte, in denen die Imagination neuerdings würde Fuß fassen und sie aus der Wirklichkeit heraushalten können. Windige Jägerhütten und Nomadenzelte waren demgegenüber inattraktiv. Aber jede neue virtuelle Hinfälligkeit der prometheischen Backsteinbauten hebt die erreichte Äquivalenz mit Felsgewölben wieder auf. Die Realismusdifferenz von „Rückzug“ und „Rückkehr“ bleibt unaufhebbares Resultat einer unumkehrbaren Geschichte.

Seit jedermann gesehen hat oder wissen kann, wie es auf dem Mond oder auf Mars und Venus aussieht, hat die klassische Auffordeung Per aspera ad astra! an Reiz wie Erhabenheit verloren. Da es sich ohnehin um eine rhetorische Übertreibung handelte, mag man die Ernüchterung nicht bedauern. Doch hat sie die bislang unbetonte Implikation, im Aufstieg zu den Sternen keinen zukünftig-utopischen Ausweg mehr für den Fall einzukalkulieren, daß die Unbewohnbarwerdung der Erde bei gleichzeitiger Fortentwicklung der Astronautik der Menschheit eine Möglichkeit offenließe, nicht mit ihrem Planeten unterzugehen. Es ist kein Vergnügen zu sagen, daß sich damit der Blick in die entgegengesetzte Richtung wendet: zum Unterirdischen und Innerirdischen als Überlebensstätte für die von der verderbten Oberfläche Flüchtigen. Pioniere dieser Wendung sind oder werden Institutionen und Personen, deren Schutzwürdigkeit vor tödlicher Einwirkung über jeden Zweifel so erhaben ist, daß nicht einer einmal angemeldet worden wäre. Tief in Felsen sind die Kommandozentralen für Fälle untergebracht und abgesichert, in denen vielleicht schon nichts mehr zu kommandieren wäre.

Das mag sich zynisch anhören, ist aber durch die Geschichte schon in nuce vorgeführt worden, als Hitler aus seinem Bunker unter der Berliner Reichskanzlei vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs Armeen feldherrlich befehligte, die gar nicht existierten, und sich den Mangel an Wirkung seiner Marschordres nicht einmal zu erklären wußte. Zwar war das Ende jedes „Realismus“ den gespenstischen Funksprüchen längst vorausgegangen, deren letzter nur noch die Illusion des Entsatzes der „Festung Berlin“ auf den Rest der Fassungslosigkeit reduzierte1; aber Untergang, beim Wortsinn genommen als Verlassen der Oberfläche von Sichtbarkeit und Aussicht wie Einsicht, fand eine Anschaulichkeit, die jeder Legendenbildung und jeder Umstilisierung den Atem benahm. Zwar nicht die Menschheit, aber der Verbrecher gegen sie war von der Erde verschwunden und der Lächerlichkeit der Bildstreifen von seinen Auftritten preisgegeben. Was gefürchtet worden war - im Alpenreduit würden sich tausende von Höhlen mit einer sich ihrer Ungeschlagenheit rühmenden schwarzen Armee füllen und schließen -, das hat sich als Sumpfblase einer nichts ausschließenden Phantasie erwiesen. Es gab die Rückkehr in die Höhlen nur in der einen Figuartion des Betonbaus von Berlin.

Doch der Gedanke, unterirdisch alles zu überdauern, was auf der Oberfläche der launischen Realitäten Beständigkeit ausschließt, ist älter als jeder Verdacht auf Romantik der Rückkehr zu den Ursprüngen, älter auch als der Umgang mit der Herstellung von Unverwundbarkeit für den Oberbefehl. Für dieselbe letzte Zeit, für die der Amozsohn Jesaja im zweiten seiner Gesichte prophezeit hatte, was heute der Gegenwart vindiziert wird, es würden der Heiden Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln gemacht, mahnt er die zu Schätzten und Götzen Abtrünnigen seines Volkes, in die Felsen zu gehen und sich in der Erde zu verkriechen mitsamt den Götterbildern vor dem Glanz ( kabod) des Einen. Dreimal beschwört der Prophet dieses Schreckensbild der Flucht aus der Sichtbarkeit der Erdoberfläche: Da wird man in der Felsen Höhlen gehen und in der Erde Klüfte vor der Furcht des Herrn und vor seiner herrlichen Majestät, wenn er sich aufmachen wird, zu schrecken die Erde.

So seien sie eben, die Unheilsvisionäre, könnte man sagen, wäre nicht die Präferenz für dieses zweite Kapitel beim Jesaja in unseren Jahrzehnten unmittelbar gefolgt dem gebannten Hinhorchen auf die in ihrer genuinen Sprache nicht weniger schwer zugänglichen Worte des einstmals Großen Vorsitzenden, der sein Volk zur Unerreichbarkeit gemahnt hatte: Baut tiefe Tunnel, schafft Vorräte an Getreide und geratet niemals in Versuchung, Hegemonie anzustreben.

Mit den Visionären haben es die Menschen immer schwer gehabt, weil sie einerseits die großen Schrecknisse und Verelendungen beschwören, andererseits die plausibelsten und nahezu leicht erscheinenden Auswege weisen konnten - sowohl aus den Höhlen heraus als auch wieder in sie hinein. Diese „Symmetrie“ ist nicht vorzugsweise eine Sache der romantischen Zuordnung von Ursprüngen und Untergängen, Verlusten und Rückgewinnen, Sündenfällen und Erlösungen.

Von der Erdoberfläche, aus der Sichtbarkeit und Erreichbarkeit zu verschwinden ist ein Projekt des geminderten Wirklichkeitsbewußtseins: Man macht sich klein, um den großen Schlägen zu entgehen, indem man eine Art Weltverzicht nach ältester Asketenart leistet. Nur ist es im Maße der vermeintlichen, befürchteten Anfälligkeit der Welt für ihren Untergang „strenger“ gemeint, als es der Stylit oder Wüstenheilige hatte meinen können, der sich „nur“ versagte, was eine zu seinem Bedauern fortbestehende Welt zu bieten hatte. Jene nahmen für sich vorweg, was allem Flehen zum Trotz nicht hatte kommen wollen. Vermag man sich den Neuen Eschatologen nicht zuzurechnen, bleibt es ein Gedankenexperiment ersten Ranges, die Folgen des Untertauchens vor dem Untergang, des Rückzugs aus der aktiven wie passiven Optik nach den „Regeln der Kunst“, nämlich der philosophischen, vorzustellen.

Dann heißt auf die Welt zu verzichten, die intersubjektive Trägerschaft der Weltexistenz funktionslos zu machen. Nur als die, die sich zu anderem verhalten und in diesem Verhalten einander wahrnehmen, sind als andere für jeweils jeden so etwas wie der Weltvertrauensfonds, aus dem er seine Weltfähigkeit wie den zugehörigen „Realismus“ bezieht. Unvermeidlich wäre eine von Technik vorbereitete und begleitete Zuflucht ins Unterirdische aus allen Arsenalen der Simulation den Normen der Erträglichkeit anzunähern. Es fällt nicht schwer, das ohne utopische Überanstrengung auszudenken, denn der „Weltschwund“, der noch kein Untergang ist, womöglich dessen Zurückdrängung, ist schon Alltäglichkeit: Welterfahrung durch touristisches Anwesendwerden am Ort ist schiere Illusion im Vergleich zu der als „Realität“ akzeptierten Überfülle an „authentischem“ Material von Bildern und Informationen aller Art. Eine „Welt“ der Nichtsehenden weil Alleswissenden ist entstanden. Sie könnte aus ihren Archiven fortbestehen lassen, was es längst nicht mehr gäbe und im Grunde schon nicht mehr zu geben brauchte - eine Welt der Entlastung von Wirklichkeit, sich ständig ihrer interimistischen Geltung rhetorisch versichernd: Vorbereitung auf den neuen Himmel und die neue Erde.

1 Hitlers letzter Funkspruch an den Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Jodl, traf am 29.April 1944, 23 Uhr, in dessen Quartier Dobbin in Mecklenburg ein. Er bestand aus fünf Fragen: 1. Wo Spitze Wenck? 2. Wann tritt er an? 3. Wo 9.Armee? 4. Wo Gruppe Holste? 5. Wann tritt er an? gez. Adolf Hitler. (W.Warlimont, Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939-1945. Frankfurt 1962, 546 f.).

Hans Blumenberg: „Höhlenausgänge“, Suhrkamp Verlag, 827 Seiten, 88 DM