V O R L A U F Schonungslose Offenheit

(Lebensmüde Städte, West 3, 20.15 Uhr) Längst haben wir uns daran gewöhnt, daß aus dem Osten immerzu nur schlechte Nachrichten in unsere gute Fernsehstube dringen. Positive Nachrichten würden da das Bild vom maroden kommunistischen System stören. Mehr noch. Wir würden sie einfach nicht als wahr akzeptieren können. Also ist Lebensmüde Städte von dem russischen Regisseur Alexander Rodnjanski zunächst ein Film, der schaurige Bilder liefert und damit beruhigend die gewohnte Kette schlechter Nachrichten fortsetzt. Elendsbilder über vergiftete Städte in der Sowjetunion. Kokereiarbeiter, deren Schemen im Abgasnebel fast vollständig untergehen - aufgenommen auf Schwarzweißmaterial, das im Kopierwerk einen Blaustich bekommen hat und dadurch noch gespenstischer aussieht.

Dann aber - und vielleicht liegt es daran, daß nicht der Außenblick des Korrespondenten, sondern die Emotionen des Einheimischen überwiegen - bringt uns der Film zum Nachdenken darüber, was Glasnost außer Krisen und Katastrophen an Positivem bringen könnte. Denn der Schwall an Horrormeldungen zeigt manchmal mehr als nur ein kaputtes Land. Er enthüllt - wie auch dieser Film -, daß in der Sowjetunion Prozesse der Auseinandersetzung ablaufen und eine schonungslose Offenheit, die hierzulande abhanden gekommen sind. Wo traut sich schon ein westdeutscher Dokumentarfilmer, so subjektive Kommentartexte (bei Alexander Rodnjanski weiß ich endlich, woher diese Bezeichnung für den Off-Ton ursprünglich herkam) zu sprechen? Welcher Sender wäre bereit, diesen Film ohne Ausgewogenheitsverrenkungen ins Programm zu nehmen, wenn er aus deutscher Produktion käme? Welche Firma - Bayer etwa? ließe sich derart hinter die Kulissen schauen? Fragen, auf die es nur eine Antwort gibt: Wir brauchen die tägliche Katastrophe aus dem Osten. Es ist ja so beruhigend, wenn die schlechte Nachrichten von drüben suggeriert, daß hier alles besser ist.

Christof Boy