Mawashi-Jodan, Chudan-Zuki, Unsu

Bei den deutschen Karate-Meisterschaften zeigt sich viel Mittelmaß - und Neigung zum Trunk  ■  Aus Lüneburg Olga O'Groschen

Wie die Kirschblüte sich im Strahl der Morgensonne löst und heiter schimmernd zur Erde gleitet, so hob sich in jenem Augenblick Brachmanns rechter Fuß vom Boden, beschrieb einen hohen rückwärtigen Bogen und landete sanft klatschend auf der Wange seines Gegners. Ippon für Ushiro-Mawashi-Geri, der Kampf war nach fünf Sekunden beendet und die beiden Kämpfer lagen sich unter dem Jubel der Zuschauer in den Armen. Für einen explosiven Moment war die Schnelligkeit und Artistik des modernen Sportkarate aufgeblitzt. Doch solche Glanzpunkte waren eher selten auf diesen Meisterschaften.

Ein Wochenende lang wurde das putzige mittelalterliche Städtchen Lüneburg heimgesucht von Rotten muskelstrotzender Karateleute, die durch die Innenstadt stromerten auf der Suche nach der nächsten Kneipe. Aus allen Bundesländern waren sie gekommen, bayerische Schnauzbärte, hessische Hünen und flinke Wiesel aus Hamburg und Berlin, kahlgeschorene Samurai-Nachkommen ebenso wie quietschvergnügte Karate -Frauen. Die Lüneburger Kneipeninsassen staunten jedenfalls nicht schlecht, wie die eingefallenen Karateka ein Täßchen Bier nach dem anderen leerten, während sie lässig grinsend und schlitzohrig ihre japanischen Kampftechniken diskutierten. Der langjährige Ruf der Karate-Gemeinde, dem Trunk nicht nur zugeneigt, sondern geradezu ergeben zu sein, wurde auch in Lüneburg erfolgreich verteidigt.

In der engen und überfüllten Nordland-Halle blieb die Gemeinde dann unter sich. Allen Anstrengungen zum Trotz, Karate zu popularisieren und dem Fernsehen schmackhaft zu machen, ist Karate ein Sport für Eingeweihte geblieben. Die Handvoll Zuschauer, die zum ersten Mal Karatekämpfe sah, rieb sich die Augen ob der blitzschnellen Techniken, die im Normalfall vor dem Kontakt abgestoppt werden. Wer wegen blutiger Nasen und knackender Knochen gekommen war, zog bald wieder enttäuscht ab. Die Entwicklung zu Wirkungstreffern, die beim Taekwando und Kickboxen zu sehen ist, wird im Karate vermieden; auch ein Verdienst der Kampfrichter, die solches ahnden.

Die vierhundert StarterInnen wuselten auf fünf Kampfflächen, während sich die mitgereisten Schlachtenbummler auf der Tribüne drängen und nicht mit fachkundigen Ratschlägen geizten. „Hau‘ rein, ganz konsequent!“, „Mach‘ ihn platt!“ und „Los, Rudi, volle Kanne!“ lauteten die stimmgewaltigen Empfehlungen. Die Kämpfe des ersten Tages zeigten jedoch viel Mittelmaß und wenig Klasse. Das mag auch daran gelegen haben, daß viele große Karate-Namen wie Hage, Dietl, Steineck und Osterkemp diesmal fehlten und international erfolgreiche Kadermitglieder wie Reuß schon frühzeitig ausschieden.

So waren technisch hochklassige Kämpfe selten, viele Kämpfer beharkten sich nervös mit boxähnlich trommelnden Fäusten. Kampfrichterreferent Wichmann war immerhin glücklich darüber, daß der Trend zum schlechten Karate mit vielen unkontrollierten Kontakten zum Kopf aufgehalten werden konnte.

Die abendlichen Finalkämpfe boten dann doch zeitweilig technisch hochklassige und spannende Kämpfe. Vor allem der Kölner Dieter Roman begeisterte mit blitzschnellen Mawashi -Jodan-Tritten. Martin Brüll aus Neumünster konnte mit starken Chudan-Zukus einen 0:3 Rückstand noch zum 6:3 umbiegen. Im Kata-Shiai siegte Simone Schreiner überlegen und erwartet bei den Frauen, während bei den Männern Rainer Müller von Katibis im letzten Sprung verstolperter Unsu profitierte.

Die nett gemeinten Bemühungen der Lüneburger Ausrichter, das traditionelle Karate zu demonstrieren, lehrten dann viele Zuschauer das Fürchten. Zu stampfender Discoblubbermusik und im orangenen Flutlicht zeigten die Wado-Ryu-Sprößlinge ihre herzigen Techniken. Da durfte David gegen Goliath siegen, da wurde zu jugoslawischen Volksklängen meditiert, daß alle an die Wonne der billigen Kung-Fu-Filme erinnert wurden. Zur Entspannung erging man sich danach in umliegenden Kneipen in Erzählungen und Legenden, die die zarte und innige Liason des Karate mit alkoholischen Getränken belegten.

So wurde die japanische Sitte mitgeteilt, daß Neulinge sich zunächst durch ein Reiswein-Wetttrinken zu profilieren hätten und dann, sternhagelvoll, zum Training getrieben würden. Auch die Anekdote vom sturzbesoffenen Bundestrainer Ochi, der nächtlings auf einem Brückengeländer eine elegante Kata absolvierte, wurde unter allgemeinem Staunen aufgewärmt.

Der zweite Tag bot dann wesentlich schönere Kämpfe, besonders bei den Frauen. Die Zeiten, da sie sich zickig mit Kratzen und Beißen in den Haaren lagen, scheinen nun endgültig vorüber zu sein. Die Übernahme des athletischen Kampfstils mit fast boxerhafter Beinarbeit machte die Kämpfe ungewohnt attraktiv. Im Kata-Shiai blieben die Mannschaften von Ludwigshafen auf Sieg abonniert, besonders die Männer überzeugten mit einer glänzend vorgetragenen Unsu.

Nach zwanzig Stunden geballter Karatedröhnung waren die Meisterschaften vorbei, und die Frauen vom Shotokan Club Berlin schlingerten putzmunter über die Transitstrecke den heimatlichen Gefilden entgegen, ließen ihre Sektflaschen kreisen und sangen altehrwürdige asiatische Kampflieder. Wie kann man die Vize-Meisterschaft angemessener feiern als durch einen kräftigen Umtrunk? Haut rein!