Camp, die treibende Kraft

■ Ken Russels D.H. Lawrence-Verfilmung „Liebende Frauen“, 22.40, ZDF

Ken Russel kann keine Filme machen. Doch keiner kann dies so gut wie er. Seine von Esoterik und Pop-Kultur durchsetzten (Mach-)Werke, die er seit seinem ersten Publikumserfolg Liebende Frauen (1969) auch selbst produziert, provozierten nicht selten heftige Reaktionen, Ausdruck von Unverständnis gegenüber der zentralen, treibenden Kraft hinter seinem Schaffen: dem „Camp“.

Dabei handelt es bei Camp nicht nur um „Kunst“, sondern um eine Erlebnisweise, eine den Stil und die Künstlichkeit gegenüber dem Inhalt favorisierende Perspektive auf die Wirklichkeit, ist die als Insidercode zu betrachtende Chiffre nie zum offiziellen Etikett geronnen. Geboren aus der Psychopathologie des Überflusses, ist der geistreiche Hedonismus des Camp ein Versuch der Bewahrung des Ästhetischen innerhalb der Massenkultur. Die Nähe zum Jugendstil, zum rein Dekorativen, zur Sinnverweigerung ist ebenso (unv-)erkennbar wie der Unterton des Überspitzten, Perversen, Vulgären, Pathetischen und Anti-seriösen sowie das fein ausgewogene Verhältnis zwischen Parodie und Selbst -Parodie. Camp ist nie Produkt planvoller, ideologischer Intention.

Nachdem Russel in seinem ersten Kinofilm French Dressing (1963) bereits mit der Sprache der TV-Werbung arbeitete, noch bevor Richard Lester sie im Spielfilm etablierte, erregte der 1927 geborene Ballettänzer und Fotograf durch eine Reihe eigenwilliger Komponisten -Biographien Aufsehen. Mit seiner Rock-Oper Tommy (1975) war er „in“, und das ist das Gegenteil von „campy“.

Seine latenten Camp-Qualitäten, die in Valentino (1977) durchschienen, entfaltete er erst im Spätwerk ab Gothic (1987). Bilderstürmerisch und comic-haft inszeniert, riß er mit dieser cineastischen Achterbahnfahrt die Dichterfiguren Mary Shelly und Lord Byron aus dem verklärten Poetenhimmel. Mit der opulenten Hommage an Oscar Wilde, einem Hauptvertreter des Camp, Salomes letzter Tanz (1988) sowie der geschmackvoll/geschmacklosen Bram-Stoker -Verfilmung Der Biß der Schlangenfrau (1988) erreichte Russel seinen Höhepunkt, da es ihm hier gelang, zwischen allen Stühlen sitzend die konventionelle filmästhetische Werteskala am konsequentesten zu unterlaufen. Russel sieht sich trotz allem als geschmähter Aufklärer und nimmt sich und seine „Inhalte“ toternst. Er läuft dem Image des Enfant terrible eher hinterher, als daß er es genießt. Seine Qualitäten liegen im grandiosen Scheitern.

Die Textvorlage zu Liebende Frauen stammt von Sinnlichkeitsapostel D. H. Lawrence, der mit seinen Romanen im puritanisch prüden, spätviktorianischen England gegen bürgerliche Konventionen stritt.

Russel hat stets eine glückliche Hand für die Besetzung seiner Filme gehabt. Bereits in Liebende Frauen resultierte daraus der irritierende, schöpferische Kontrast zwischen der dem Kitsch zusagenden Inszenierung und der beeindruckenden Darstellung seiner Akteure. Mit Der Höllentrip (1980) wurde William Hurt über Nacht weltberühmt, und Glenda Jackson erhielt sogar für die Rolle der Bildhauerin Gudrun Brangwen in Liebende Frauen 1970 den „Oscar“ als „beste Darstellerin“. Mit seinem aktuellen Kinofilm Der Regenbogen widmete sich Russel erneut D. H. Lawrence.

Manfred Riepe