Die Optik der Aufklärung

 ■  ENTREE GRATUITE - MINIATURMUSEEN IN PARIS

Entree Gratuite - unter diesem Motto hat der Pariser taz -Korrespondent Miniaturmuseen in der Seine-Stadt besucht. Heute die 4.Folge unserer kleinen vorösterlichen Serie: Das Brillenmuseum von La Muette.

Die Unglaublichen“ wurden sie genannt, jene Edel-Punks der postrevolutionären Jahre des frühen 19.Jahrhunderts: mit verfilzten langen Haaren, ausschweifenden Krawatten, selbst zusammengestellten Kostümen aus dem Arsenal der Lumpensammler des Faubourg Saint Antoine - so spreizten sie sich auf den öffentlichen Plätzen und demonstrierten kynische Gelassenheit in angeblich großer Zeit. Das wichtigste Utensil der Unglaublichen aber waren ihre mächtigen Lorgnette, aufklappbare Augengläser, mit grellfarbenen Schnüren behängt, oft tintenblau gefärbt und mit einem überdimensionierten Stiel versehen. Die Lorgnetten hielt man - ob kurzsichtig oder nicht - zwischen sich und die Welt und ließ selbige unmißverständlich wissen, daß sie sich in unseren Augen völlig anders ausmacht als sie von sich glaubt. Posiert nur, schmückt und verstellt euch letztlich existiert ihr doch nur im Blick der anderen, so lautete die frühexistenzielle Botschaft der Lorgnetten.

Ein gutes Dutzend von ihnen hat der Optikermeister Pierre Marly in seinem Laden nahe der Metrostation „La Muette“ ausgestellt, neben zweieinhalbtausend anderen Instrumenten der Aufklärung, die in der Welt einzigem Brillen- und Lorgnettenmuseum zu besichtigen sind. Hunde-, Hühner- und Automobilistenbrillen, ein Foucaultsches Teleskop, Monokel, Binokel, Tabakdosen-Lorgnons und eine „Sonnenkanone“ aus dem Palais Royal, bei der Punkt zwölf Uhr mittels Lupe eine Lunte entzündet wurde. Daneben die Brillen der Wahren, Schönen und Guten: jene des Dalai Lama, des Giscard, der Nana Mouskouri und eine goldene von Sarah Bernhardt. Und von Sophia Loren ist - groß, gelb und dunkel - jene Urmutter aller Sonnenbrillen ausgestellt, hinter denen sich Sommerfrischler aus Jöllenbeck und anderswo zu Riviera -Ragazza/is mutieren.

Wie jeder wahre Sammler mußte auch Pierre Marly die Leibnizsche Erfahrung machen: „Wer Brillen sucht, findet alles!“ Das Augenglas als Monade. Da wäre zum Beispiel die Entwicklung des Brillenbügels, ohne den die Aufklärung unmöglich gewesen wäre. Jahrhundertelang, seit ihrer Erfindung durch Salvino d‘ Armati um 1350, balancierten die Gelehrten holz- oder beingefaßte Zwicker aus Beryl-Kristall auf ihrer Nase, die die Eigenschaft hatten, ständig herunterzufallen. PhilippeII., so lehrt uns ein zeitgenössisches Dokument, kam auf die Idee, sich die Gläser gleichzeitig am Hut zu befestigen, eine Technik „nur für Könige, die den Hut vor niemandem zu ziehen haben“, wie die Chronik einschränkend bemerkt. Erst im 18. Jahrhundert wurde das ungestörte Lesen auch längerer Texte möglich durch die Entwicklung der Brillenbügel, die zunächst - ähnlich wie Walkman-Kopfhörer - von beiden Seiten an die Schläfen preßten. Das Ohr als Auflagemöglichkeit wurde erst später entdeckt.

Wie schon in der Entwicklungsgeschichte des Schlüssels vermerkt (siehe Folge 3) hatten anti-aufklärerische Gelüste großen Anteil an der Verfeinerung der optischen Instrumente. Marly präsentiert uns etwa sogenannte „Eifersuchts -Lorgnetten“ des Ancien Regime, mit denen mittels eines komplizierten Spiegelmechanismus unbemerkt in die Nachbarloge geblickt werden konnte; die Restaurationszeit ihrerseits war unübertroffen in der Fabrikation von Miniaturteleskopen, die in Parfümflakons, Tabakdosen, Spazierstöcken, ja sogar in Seidenfächern versteckt waren. Uns schaudert: Aufklärung, die ihren Willen zum Wissen tarnen muß, um ihren Gegenstand nicht zu verlieren... Ein Hauch von negativer Dialektik weht durch das Brillengeschäft an der Metrostation La Muette.

Alexander Smoltczyk

Musee des Lunettes et des Lorgnettes, 2, avenue Mozart, 75008 Paris.