Ein Ort der Rückkehr: Segundo Montes

In den letzten Wochen sind mehrere tausend salvadorianische Flüchtlinge aus Honduras in das von der FMLN kontrollierte Gebiet El Salvadors zurückgekehrt Während ihres mehrjährigen Exils haben sie die Flüchtlinge so weitgehend organisiert, daß sie nun mit dem Bau einer eigenen neuen Stadt beginnen können  ■  Aus Morazan Ralf Leonhard

Der Torola ist in diesen Tagen ein sanftes Gewässer, das mit jedem besseren Jeep oder Lieferwagen durchquert werden kann. Wanderer mit genügend Balancegefühl können auch über eine Kette von Steinen ans andere Ufer hopsen. Ein paar Frauen, die bis zu den Hüften im Wasser stehen und Wäschestücke auf einem Stein bearbeiten, kichern belustigt über eine Ausländerin, die auf dem schlüpfrigen Pfad ausgleitet und unversehens im Fluß sitzt. Nackte Kinder, die sich kreischend am seichten Ufer vergnügen, eilen ihr zu Hilfe. Wenn man erst einmal bis zum Torola-Fluß im salvadorianischen Nordostdepartement Morazan vorgedrungen ist, hat man keine Kontrollen durch die Armee mehr zu erwarten: „Nördlich des Torola“ - das heißt soviel wie „von der Guerilla kontrolliertes Gebiet“. Die Uniformierten, die hier am Wegrand stehen, gehören zu den Verbänden der „Befreiungsfront Farabundo Marti“ (FMLN), auch wenn sie sich von den Soldaten der salvadorianischen Armee äußerlich nur durch den Mangel an Kriegsbemalung unterscheiden: Uniformen und Waffen haben die meisten nämlich von der Armee erbeutet.

Seit die Guerilla im Jahre 1982 die Brücke gesprengt hat, müssen die Streitkräfte jedesmal eine aufwendige Expedition organisieren, um ihren Herrschaftsanspruch in diesem Landesteil wenigstens kurzfristig durchzusetzen. Zweimal wurde die strategisch wichtige Brücke wieder aufgebaut und von der Guerilla wieder beseitigt. Beim zweiten Mal war der Sprengstoff schon in die Pfeiler eingegossen und mußte nur noch gezündet werden.

Campesinos als Stadtplaner

Nördlich des Torola soll jetzt eine neue Stadt gegründet werden. Denn die 8.400 salvadorianischen Flüchtlinge aus dem Lager Colomoncagua in Honduras, die während der letzten Wochen zurückgekehrt sind, wollen auch nach ihrer Rückkehr zusammen bleiben. Das Flüchtlingslager Colomoncagua existiert nicht mehr. Alles, was brauchbar war, haben die Campesinos mitgenommen, um in der alten Heimat eine neue Siedlung anzulegen. Die zukünftige Stadt - Ciudad Segundo Montes - trägt den Namen eines der sechs Jesuitenpatres, die am 16.November 1989 von einem Armeekommando ermordet wurden. Sie liegt wenige Minuten nördlich des Torola-Flusses in unmittelbarer Nachbarschaft der Gemeinde Meanguera.

„Es war nicht leicht, diesen Standort durchzusetzen“, erzählt Nelly Moreno von einer gemeinnützigen Stiftung namens Fastras, die für die Verteilung von Finanzhilfe an die verschiedenen Projekte der zurückkehrenden Flüchtlinge zuständig ist. Die Regierung wollte die Heimkehrer im Nachbardepartement Usulutan, in einer von den Militärs kontrollierten Zone, ansiedeln. Doch die Leute aus Colomoncagua bestanden auf ihrem Recht, in ihre ursprünglichen Wohngebiete zurückzukehren. Dieses Recht ist im Friedensplan der zentralamerikanischen Präsidenten verankert und wurde von der Zentralamerikanischen Flüchtlingskonferenz (Cirefa) im Mai 1989 in Guatemala bestätigt.

Bei Meanguera besaßen viele der Vertriebenen ein Stück Land, das sie für den Bau ihrer neuen Stadt zur Verfügung stellten. „Segundo Montes hegte besondere Bewunderung für die Leute im Exil von Colomoncagua, da sie sich organisiert haben. Das war die Gesellschaft der Zukunft, die er sich wünschte.“ Die Ansprache anläßlich der Grundsteinlegung für Ciudad Segundo Montes am 25.März hielt Jose Maria Tojeira, der Jesuitenprovinzial für Zentralamerika.

Noch ist die Stadt nicht mehr als ein staubiges, mit provisorischen Unterkünften aus Ästen und schwarzen Plastikplanen übersätes Areal, das sich über mehrere Hügel erstreckt. Eigene Wasserleitungen gibt es nicht. Die Zeit drängt: Noch bevor die Regenzeit beginnt und den Fluß unpassierbar macht, sollen in vier Siedlungen insgesamt 1.700 Häuser gebaut werden. Gleichzeitig wird alles für die Aussaat vorbereitet, damit zumindest die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln ein erstes Stück Unabhängigkeit schafft.

Lernen im Exil

Internationale Hilfswerke und Kirchen wie der Lutherische Weltbund oder Brot für die Welt helfen bei der Finanzierung. Wenn die Militärs das Baumaterial und Saatgut passieren lassen, sind die Einwohner sicher, daß sie es schaffen. Den Aufbau der Stadt wollen sie selbst in die Hand nehmen. „Wir sind nicht mehr die unkundigen Campesinos, die vor zehn Jahren geflüchtet sind“, versichert Domingo Hernandez, ein fast zahnloser Greis unter einem breitkrempigen Strohhut.

Tatsächlich haben die Flüchtlinge schon im Exil Erstaunliches geleistet. Gab es 1981 in Colomoncagua nicht mehr als vier Schneider, zwei Tischler, zwei Korbflechter und 25 Knüpfer, so beherrschen von den Rückkehrern heute nicht weniger als 2.885 ein Handwerk oder haben sich im Gesundheitsdienst, im Unterrichtswesen oder in der Verwaltung wichtige Fertigkeiten erworben. 150 Schuster, 240 Schneiderinnen und Schneider sowie 60 Weberinnen garantieren die Selbstversorgung mit Kleidung und Schuhwerk. Vor acht Jahren konnte kaum einer lesen und schreiben, heute können es 85 Prozent.

Der Exodus hatte 1980 begonnen, als die Armee in schonungslosen Kampagnen gegen mutmaßliche Sympathisanten der erstarkenden Guerilla ganze Dörfer ausrottete. Das Massaker von Mozote, dem im Dezember 1981 über tausend Campesinos zum Opfer fielen, ist den Einwohnern von Morazan noch in schrecklicher Erinnerung. Zum Beispiel Cecilia F., die damals noch ein Kind war: „Meine ganze Familie wurde ermordet und unser Haus niedergebrannt. Nur meine Mutter und ich haben überlebt, weil wir außer Haus waren.“ Cecilia F. schloß sich damals der Guerilla an, die sich um die Überlebenden kümmerte.

Ihre Mutter flüchtete, wie Tausende andere, über die Grenze nach Honduras. Dort wurden die Flüchtlinge in Lagern interniert. Wer nicht bei honduranischen Campesinos unterkam oder sich gar bis in die USA und nach Kanada durchschlagen konnte, landete im Lager Colomoncagua. Neun Jahre lang konnten die Vertriebenen zwar die nur wenige Kilometer entfernten Berge ihrer Heimat sehen, durften aber das Lager nicht verlassen.

Ein neues Entwicklunsgmodell?

Der Jesuitenpater Segundo Montes, Soziologe und Chef des Menschenrechtsinstituts an der Katholischen Universität UCA, hatte in den Monaten vor seiner Ermordung an einer sozialwissenschaftlichen Studie über die Flüchtlinge in Colomoncagua gearbeitet. Dabei fiel ihm auf, daß es den Flüchtlingen aus El Salvador, anders als denen aus Nicaragua, gelungen ist, sich auf bemerkenswertem Niveau zu organisieren. Beide Gruppen genossen gleichermaßen die Unterstützung des Hochkommissariats für Flüchtlinge bei den Vereinten Nationen (UNHCR) und privater Hilfswerke. Doch nur die Salvadorianer haben ihre Situation zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung nutzen können. „Diese Gemeinschaften können nicht nur für die unterentwickelten Nordzonen zu wirtschaftlich tragfähigen Modellen werden“, schrieb Segundo Montes in seiner Studie über die Selbstorganisation der salvadorianischen Flüchtlinge, „sondern angesichts des historischen Scheiterns des individualistischen Entwicklungsmodells, für das ganze Land.“

Diese Perspektive ist für die rechtsextreme Arena-Regierung wie für die Armee ein zusätzlicher Grund zum Argwohn. Schon die Flüchtlingslager in Honduras galten als Basiscamps der FMLN. So erscheint es ihnen natürlich als doppelt suspekt, wenn die Rücksiedler vorziehen, sich in der Nähe ihrer Heimatgemeinden niederzulassen, obwohl - oder gerade weil diese in dem von der Guerilla kontrollierten Gebiet liegen. Wenn sie einmal genügend Mais und Gemüse ernten, könnten auch die Aufständischen versorgt werden.

„Wir wollen ein Klima des Respekts und der Eintracht“, versprach Oberst Corado, der Kommandant des zuständigen Armeestützpunktes in der Provinzhauptstadt San Francisco Gotera. Corado hatte ein ganzes Infanteriebataillon vorausgeschickt, bevor er sich von einem Hubschrauber in Ciudad Segundo Montes absetzen ließ, wo auch er während der Gründungsfeier das Wort ergreifen wollte. „Wir bitten Euch, daß auch Ihr Euren Beitrag dazu leistet“, beschwor er die versammelte Menge, „und die Gesetze des Landes achtet.“ Anderswo hätten die Bauern dem schneidigen Offizier mit gesenkten Häuptern zugehört und vielleicht verhalten applaudiert. Nicht so in Morazan: „Weg mit den Kontrollen“, schallte es dem Redner entgegen, „wir fordern Freiheit des Handels.“

Diese unabdingbaren Voraussetzungen für die künftige Entwicklung der Kleinstadt werden in allernächster Zukunft noch nicht gewährleistet sein. Oberst Corado begründet die Kontrollmaßnahmen mit der FMLN-Präsenz in dem Gebiet.

Perquin: Zentrum der Guerilla

Die Straße von San Francisco Gotera bis zum Torola ist voller Armeeposten. Kein Pfund Reis, kein Stiefel und kein Nagel kann über diese Straße transportiert werden, wenn dafür keine schriftliche Genehmigung vorgelegt werden kann.

„Vor ein paar Jahren war es noch schlimmer“, berichtet Evelio Sorto Ramos, ein Lehrer, der erst vor wenigen Monaten in seine Heimatgemeinde Perquin zurückgekehrt ist. Nach den Luftangriffen der Armee 1983/84 war Perquin zwei Jahre lang eine Geisterstadt, in deren zerschossenen Häusern lediglich Guerilleros nächtigten. Noch heute ist jedes zweite Steinhaus ohne Dach und aus dem geborstenen Betonboden wuchert das Unkraut. Wie Narben, die langsam verheilen, verschwinden die tiefen Bombentrichter im Zentrum nach und nach unter der Vegetation.

Ab 1985 kamen die eingeschüchterten Einwohner langsam wieder zurück, und heute hat das Städtchen wieder rund ein Viertel seiner ehemals 2.000 Einwohner. Die Strom- und Wasserleitungen funktionieren seit zehn Jahren nicht mehr.

„Die Armee ist ein Problem für uns“, seufzt der Lehrer, „wenn sie mit ihren Flugzeugen kommt und Bomben abwirft, verkriechen wir uns in unseren Häusern.“ Immerhin, seit November haben sich die Militärs nicht mehr blicken lassen: „Zuletzt waren sie am 10.November hier und wollten einen festen Stützpunkt einrichten. Die waren aber schnell wieder weg“, kichert Carmen, eine 28jährige Guerillera, „denn am folgenden Tag ging in San Miguel die Offensive los.“

Die Rationierung und Kontrolle aller Waren, die über den Torola transportiert werden, hält jedoch an. „Es ist nicht mehr so streng, wie noch vor zwei, drei Jahren“, bestätigt Oscar Chicas, der Vorsitzende des Patronats für die Gemeinden von Morazan und San Miguel (PADECOMSM), einer regionalen Selbsthilfe- und Selbstverwaltungsorganisation, die die Gemeinderäte ersetzt: „Jede Familie darf nur eine geringe Menge an Nahrungsmitteln mitbringen. Artikel wie Batterien, Werkzeug, Kleidung, Schuhe, Medikamente oder Zement, sind überhaupt verboten.“ „Die Dinge könnten an die Guerilla weitergegeben werden“, begründet Oberst Corado die Schikanen. „Unsinn“, sagt Evelio Sorto, „die FMLN hat ihr eigenes klandestines Versorgungsnetz. Nur die die Zivilbevölkerung leidet unter diesen Maßnahmen.“

Die spürbare Lockerung der Kontrollen ist der schrittweisen Rückwanderung der Vertriebenen zu danken. Die Zivilisten nördlich des Torola gelten den Militärs zwar immer noch allesamt als verkappte Guerilleros, doch werden sie heute nur mehr vereinzelt Schikanen unterworfen. Als die Luftwaffe im Juli des Vorjahres die Luftwaffe die Umgebung bombardierte und ein Infanteriebataillon das Büro von PADECOMSM verwüstete, sämtliche Dokumente verbrannte und die wenigen Geräte mitnahm, fuhr Marcial Argueta nach San Francisco Gotera, um sich zu beschweren. Kaum hatte er die Presse und internationale Hilfswerke von dem Überfall verständigt, nahm ihn die Armee fest. Die Militärs sind wenig zimperlich im Umgang mit der Zivilbevölkerung. Daß solche Übergriffe publik werden, ist ihnen nicht recht. Argueta, dem kein Vergehen nachgewiesen werden konnte, wurde erst nach zehn Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt.

Die Brücke soll nicht mehr gesprengt werden

Je mehr Menschen die Konfliktzone bevölkern, desto schwieriger wird es für die Streitkräfte, die Zivilisten zu bevormunden. Der Aufbau von Ciudad Segundo Montes erfordert den zügigen Transport von Baumaterial und Lebensmitteln. Nachdem Regierung und Armee die Siedlung im Prinzip akzeptiert haben, müssen sie auch die Konsequenzen ziehen. Dazu gehört auch der Neubau der Brücke über den Torola. Denn in der Regenzeit müssen Waren und Passagiere mühsam in kleinen Kanus oder bei starker Strömung gar einzeln an einem Seil entlang andere Ufer befördert werden.

Die Repatriierten haben den Brückenbau bereits bei der UNO -Flüchtlingskommission und beim Bauministerium beantragt. Die wichtigste Voraussetzung war eine politische Willenserklärung der FMLN, die Brücke nicht mehr zu sprengen. „Heute hat sie keine militärstrategische Bedeutung mehr“, erklärt Comandante Gustavo Amaya in Perquin, „weder die Armee noch wir benützen die Brücke.“ Einzige Bedingung ist, daß sich die Militärs fernhalten.

Druck, auch von der FMLN

Nach der Novemberoffensive rief die FMLN alle 15- bis 25jährigen auf, einen militärischen Trainingskurs mitzumachen. Wer sich weigerte, erhielt die schriftliche Drohung, er würde aus dem Gebiet ausgewiesen. Fast alle, die die Ausbildung im FMLN-Lager mitmachten, sind mittlerweile wieder zurückgekehrt. „Wenn wir Probleme mit der Guerilla haben, dann sprechen wir mit Evelyn, die hier das Kommando führt“, sagt Esperanza Varela. „Bisher konnten wir jeden Konflikt bereinigen.“ Evelyn, eine Intellektuelle, hat in der Gegend von Perquin die militärische und logistische Leitung der FMLN.

Obwohl der Kontakt der Guerilleros mit den meisten Zivilisten an der Oberfläche bleibt und eine ständige Fluktuation verhindert, daß die Kämpfer sich in der Stadt einleben, betrachten die FMLN-Comandantes die Bevölkerung der Zone als Sympathisanten. Die wenigsten Leute geben allerdings eine eindeutige Antwort auf die Frage, für wen sie votieren würden, wenn bei den nächsten Wahlen die regierende Arena, die Christdemokraten und die FMLN zur Wahl stünden.

Es ist in der Tatschwer vorstellbar, daß die bewaffneten Revolutionäre plötzlich zu zivilen Politikern werden. Um so erstaunlicher, daß die einzelnen Mitglieder der Guerilla die neue Linie des Oberkommandos bereits verstanden und akzeptiert haben. „Wenn es Frieden gibt, dann geh‘ ich wieder zur Schule“, freut sich die 16jährige Silvia, die vor zwei Jahren von zu Hause davonlief und sich der Guerilla anschloß.

Für die Zukunft bauen die Guerilleros auf Gruppen, die im Laufe des Krieges gelernt haben, unabhängig zu denken und zu arbeiten und mit den alten Strukturen der Autoritätshörigkeit gebrochen haben: Gemeinschaften, wie die Repatriierten aus Colomoncagua, von denen Montes gesagt hat: „Ich glaubte, daß es für El Salvador keine Zukunft gäbe, doch als ich ihr Organisations- und Entwicklungsmodell sah, habe ich meine Meinung geändert.“