Die Situation in der DDR ist schlimmer als nach 1945

Johannes Agnoli über den Umgang mit der Stasi-Vergangenheit im Vergleich zur „Entnazifizierung“ in der Bundesrepublik nach 1945  ■ I N T E R V I E W

Prof. Johannes Agnoli ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

taz: Wie siehst du heute den Generalrausschmiß von Richtern, höheren Beamten, Staatsanwälten nach dem Ende des Nazifaschismus in der DDR im Vergleich zur gescheiterten Entnazifizierung in der Bundesrepublik? Ist in der DDR der Antifaschismus gescheitert?

Johannes Agnoli: Dem Antifaschismus in der DDR ist vorzuwerfen, daß - selbst beim Rausschmiß, der an und für sich richtig gewesen ist - das Ganze eher als ein Ritual aufgefaßt wurde. Ein Ritual, das schon deshalb verfälscht war, weil die Besatzungsmacht dabei eine wesentliche Rolle spielte. Es wurden auch keine Überlegungen angestellt, wie der einzelne im Nazisystem eingefangen, verstrickt war. Trotzdem muß ich sagen, es war der richtige Schritt, gemessen an dem, was in der Bundesrepublik geschehen ist. Die Frage bleibt allerdings, was hat es der Bevölkerung der DDR genutzt, daß kein Globke Berater des DDR -Ministerpräsidenten gewesen ist. Die antifaschistische Welle in der DDR war im Grunde keine gesamtgesellschaftliche Reinigungswelle, sondern ein System ist durch ein anderes ausgewechselt worden.

Welche Ähnlichkeiten siehst du zwischen der (gescheiterten) Entnazifizierung und dem derzeitigen Bemühen um „Entstasisierung“ in der DDR?

Die Situation ist aus einem ganz einfachen empirischen Grund heute viel schlimmer als damals. Die Gestapo und der ganze SS-Apparat hatten es zwölf Jahre lang mit 70 Millionen Deutschen zu tun. Der Stasi-Apparat hatte es vierzig Jahre lang mit 16 Millionen zu tun. Deshalb ist die Verfilzung viel feiner und viel schwieriger aufzulösen als damals. Auch die Möglichkeiten der Erpressung sind heute viel größer als damals. Wenn ich von Erpressung rede, meine ich aber auch die mögliche Erpreßbarkeit der neuen politischen Klasse in der DDR durch den Bundesnachrichtendienst. In der DDR gibt es eine Situation der doppelten Erpreßbarkeit. Ich weiß da auch keine Lösung.

Parallelen, Ähnlichkeiten, Vergleiche zwischen Nazizeit und Stalinismus im Zusammenhang mit der Stasi, aber auch generell, etwa im Umgang mit der jeweils vergangenen Geschichte, der eigenen Verstrickung: Wie siehst du das Problem des Vergleichens und die Gefahren einer Gleichsetzung?

Man muß schon aufpassen, nicht dahin zu geraten, genauso wie Ernst Nolte den Faschismus als asiatologisch gedeutet hat, diese Asialogie fortzusetzen bezüglich der Stasi -Praxis. Ich gebe durchaus zu, daß es nicht nur eine Verwandschaft in der Methode gab, sondern daß die Stasi wahrscheinlich technisch sogar sehr viel weiter war als die Gestapo. Aber ich lege sehr großen Wert darauf, gerade wenn man es als wichtige Aufgabe betrachtet, das Problem der Stasi in einer besseren, tieferen Weise zu lösen als 45 das Problem der Nazis. Die fast 40jährige Zwangsherrschaft der SED war gerichtet gegen die eigene Bevölkerung. Sie hat die gesellschaftliche Autonomie und das intellektuelle, wahrscheinlich auch das seelische Leben der eigenen Bevölkerung geschädigt. Die Hitlersche Diktatur hat Europa mit weitgehender Zustimmung der eigenen Bevölkerung verwüstet. Und das ist ein wesentlicher Unterschied. Wenn man diesen wesentlichen Aspekt außer acht läßt, gerät der Vergleich in ein sehr gefährliches Fahrwasser der künstlich aufgebauten Kontinuität. Das Problem Stasi kann nicht gelöst werden, wenn man sagt, im Grunde ist es das gleiche, wir müssen viel besser vorgehen als 45. Man muß anders vorgehen. Im übrigen gibt es auch Möglichkeiten des Vergleichs. Ich würde sie anders fassen, die Vergleichbarkeit umkehren: Die Stasi-Systematik ist nicht zu vergleichen und zu messen an Gestapo und SS, sondern an der Tätigkeit des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik. Und dazu kann man sagen: So schlimm wir den Verfassungsschutz auch finden, so schlimm wie die Stasi ist der Verfassungsschutz nicht. Zugleich wissen wir von den Erfahrungen in der DDR mit der Stasi, welche Gefahren in diesem System der Überwachung der Bürger bestehen. Der Antifaschismus der DDR hat offiziell geschichtlich den Überwachungsstaat abgelehnt und selber einen Überwachungsstaat aufgebaut.

Wie kann man es denn anders machen?

Zunächst einmal müßte die Konsequenz aus all dem sein: keine Staatssicherheitspolizei mehr. Außerdem müßten diejenigen, die sich jetzt zur Wahl gestellt haben und sich politisch betätigen wollen, den Mut haben zur Traurigkeit über sich selber und nicht etwa abwarten, bis irgendein Stasi sie über die Klinge springen läßt und denunziert. Sie sollten den Mut haben, selber zu sagen, ja, ich habe das und das getan. Die Leute sollen die Wahrheit sagen. Die Beurteilung dessen, was sie getan haben, sollte man ruhig der Gesellschaft und der freien Diskussion darüber überlassen, ob ein politisches Mandat damit vereinbar ist. Ich halte das deshalb für wichtig, weil bei der Unmenge von Leuten, die in das Stasi-System hereingeraten sind oder hereingeraten wollten, nur die subjektive Seite als Lösung denkbar ist. Eine Liste aller Namen zu veröffentlichen nutzt überhaupt nichts, solange man nicht weiß, was jemanden dazu bewogen hat, für die Stasi zu arbeiten.

Wie beurteilst du im Unterschied zum Antifaschismus der DDR den Antifaschismus der 68er heute?

Der Antifaschismus der 68er hatte eine ganz andere Qualität als der der DDR. Der offizielle Antifaschismus der DDR ritualisierte sich in der Aussage, die DDR hätte damit überhaupt nichts zu tun, sie hätte den Faschismus abgeschafft. Bei uns wurde die Faschismusproblematik 68 ganz anders angegangen. Es war die Umkehrung des Problems. Wir fragten uns, inwieweit es eine faschistische Kontinuität in der Bundesrepublik gäbe. Die Perspektive der Kontinuität kann uns eher in die Lage versetzen, endlich diesen Selbstreinigungsprozeß gegenüber der Vergangenheit vorzunehmen.

Gibt es denn in der DDR heute tatsächlich eine Wende? Oder wird da Geschichte nur abgstreift?

Ich habe die große Hoffnung, daß eine Wende stattfindet. Aber ich habe den Eindruck, daß sich ähnliche Erscheinungen abzeichnen wie nach 45 bei uns. 40 Jahre DDR werden wenigstens rein formell - geleugnet. Ich habe gerade ein Umfrageergebnis gelesen zu der Frage, was den Menschen in der DDR am wichtigsten ist: Für etwa 90 Prozent ist es die soziale Sicherheit. Mit anderen Worten: Sie leugnen 40 Jahre, und dabei sind sie in dieser eigentümlichen Situation, daß ihnen diese 40 Jahre einiges gebracht haben, worauf sie nicht mehr verzichten wollen.

Geleugnete Kontinuität, in der ist man doch hoffnungslos verfangen?

Das ist das Ende des Geschichtsbewußtseins. Und das ist auch das Ende der Fähigkeit, aus sich selber - aus der Erkenntnis, daß man etwas falsch gemacht hat - wirklich etwas Neues anzufangen. Warum habe ich so wenig Schwierigkeiten mit meiner Vergangenheit? Weil ich jederzeit sage und auch geschrieben habe, daß ich mit 17 Jahren ein Jungfaschist war in Italien. Ich habe das nicht geleugnet. Und das ist es, was ich von den Leuten verlange, daß sie nicht leugnen, Fehler begangen zu haben.

Im Fall der DDR handelt es sich nicht um einige zehntausend Menschen, sondern um Millionen, die da eingespannt waren in das System der Stasi. Wenn schon Dossiers über 6 Millionen Menschen existieren, dann müssen auch Millionen daran gearbeitet haben. Auf der operativen Ebene müssen nicht etwa die Akten der 400 Volkskammerabgeordneten durchleuchtet werden. Diejenigen, die wissen, daß sie für die Stasi gearbeitet haben, sollten dies verkünden und sich der Diskussion zur Verfügung stellen. Dann kann meinetwegen eine Amnestie kommen.

Dazu muß man aber erst wissen, was amenstiert werden soll.

Die Amnestie hat zur Voraussetzung, daß man weiß, was einer, der amnestiert werden soll, getan hat.

Interview: mtm