Die ganz große Koalition ist perfekt

■ Außer den Erben der SED und den Bürgerrechtsbewegungen sind alle relevanten politischen Kräfte vertreten

Obwohl die Spannung bis zuletzt erhalten bleibt, gibt es kaum noch Zweifel: Zu Ostern wird den DDR-Bürgern eine Koalition aus SPD, Konservativen und Liberalen beschert werden. Trotz der Nähe dieser Parteien zum bundesdeutschen Parteienspektrum wird in nächster Zeit mehr Eigenständigkeit gefordert werden. Die Chancen dafür stehen vielleicht besser, als es auf den ersten Blick erscheint.

Die neue Regierung der DDR ist eine Regierung, in der fast alle relevanten politischen Kräfte des Landes vertreten sind - außer dem direkten Erben der gestürzten Staatspartei, der PDS, und denjenigen, die dieses Regime gestürzt haben, den Bürgerrechtsorganisationen. An Bürgerbewegung und Revolution, die erst vor einem halben Jahr die DDR in ihren Grundfesten erschütterten, erinnern allenfalls noch einzelne SPD-Minister wie der künftige Außenminister Markus Meckel. Schon der frühere Kriegsdienstverweigerer und Pfarrer Rainer Eppelmann als Minister für Verteidigung und Abrüstung ist eher ein Kuriosum. Er selbst kann zwar auf langjährige oppositionelle Kontinuität hinweisen, seine Partei aber, der „Demokratische Aufbruch“, hat mit der im Oktober 1989 gegründeten Bürgerrechtsorganisation gleichen Namens nurmehr das Etikett gemeinsam. So wie das alte Regime sich mit Vorzeigeproletariern schmückte, so hat die neue Regierung ihre Vorzeigebürgerrechtler, die über die politischen Kräfte, die hier vertreten sind, nichts aussagen.

Tatsächlich handelt es sich bei dieser Koalition um ein Bündnis zwischen den alten Blockparteien und den Ablegern bundesdeutscher Parteien. 14 der 24 Kabinettsmitglieder kommen aus den früheren Blockparteien CDU und BFD/LDPD, 10 aus Neugründungen unter tatkräftiger Bonner bzw. Münchner Regie (DSU, SPD). Das eigentlich Überraschende an dieser Konstellation ist, daß die ehemaligen Blockparteien, die im Herbst 1989 kaum weniger diskreditiert waren als die SED, bei den Wahlen und in diesem Bündnis klar die Oberhand gewonnen haben. Der Umstand, daß sie sich seither personell erneuert haben, reicht zur Erklärung dieses Phänomens nicht aus, denn das gleiche Argument könnte man mit nicht geringerem Recht auf die heutige PDS anwenden.

„Modell Deutschland“ als

der Weisheit letzter Schluß

Man muß in die Geschichte seit dem Herbst zurückgehen, um diese Merkwürdigkeiten zu verstehen. Die nicht endenwollende Ausreisewelle hatte in der DDR-Gesellschaft zu einem solchen Krisenbewußtsein geführt, daß den Bürgerrechtlern eine Massenbasis zuwuchs, weil sie die einzigen waren, die die Krise und die politischen Auswege benannten. Unter dem Ansturm demonstrierender Öffentlichkeit zerfiel die in sich morsche SED-Herrschaft in überraschend hohem Tempo. Zugleich brachten Grenzöffnung, Zerfall der Machtstrukturen und wachsende Empörung neue Generationen auf die Straße. Diese Menschen protestierten vor allem im Süden des Landes nicht nur gegen politische Entmündigung, sondern auch gegen die Vernachlässigung ihrer sozialökonomischen Interessen - von der Versorgung bis zu Städtebau und Umwelt. Sie maßen das, was ihnen jahrzehntelang vorenthalten worden war, an dem, was sie - viele zum ersten Mal - bei ihren Stippvisiten in die Bundesrepublik als Lebensstandard wahrnahmen. Sie suchten nicht nach einem neuen Modell für die DDR - etwa einem „demokratischen Sozialismus“ - sondern nach Wegen, den gleichen Standard möglichst schnell zu erreichen.

Die öffentliche Debatte über diese Frage und auch darüber, ob dieses „Modell Deutschland“ der Weisheit letzter Schluß wäre, hätte in der DDR stattfinden müssen. Doch das öffentliche Terrain wurde - seit klar war, daß die Wahlen vorgezogen würden - von den Sendboten der bundesdeutschen Parteien okkupiert. Die Entscheidung für eine konservative Mehrheit fiel Mitte Februar, das geht aus den damaligen Infas-Umfragen hervor. Getroffen wurde sie von den mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht entschieden hatten. Sie votierten nun für die „Allianz“, die in ihrem Wahlprogramm u.a. „die sofortige Einführung der D-Mark“ ankündigte.

Ernüchterung nach der Wahl

Gemessen am bundesdeutschen Parteienspektrum stimmten sie für die Parteien, die über die Macht und damit das Geld verfügen. Doch innerhalb des DDR-Parteienspektrums entschied sich fast die Hälfte der Wählerschaft für die alten Parteien, die vertrauenerweckender schienen als die schnellen Neugründungen. Die bundesdeutschen Parteien haben sich des DDR-Wahlkampfes für ihre Zwecke bedient. Das gilt aber auch umgekehrt: Die DDR-Parteien haben die bundesdeutsche Politprominenz für ihre eigene Sache werben lassen.

Die Ernüchterung, die nach dem Wahltag und insbesondere seit der Veröffentlichung des geplanten Umtauschkurses eingesetzt hat, setzt die Regierungsparteien unter ganz erheblichen Druck, denn eine verläßliche Stammwählerschaft haben sie alle noch nicht. Da die Interessen von DDR- und BRD-Bürgern trotz aller nationalen Propaganda nicht deckungsgleich, zum Teil sogar gegensätzlich sind, müssen die DDR-Parteien aus ihrem Eigeninteresse heraus jetzt gegenüber Bonn Profil entwickeln.

Das Einverständnis aller Koalitionsparteien, auf dem Umwechselkurs von 1:1 für Sparvermögen, Renten und Löhne zu beharren - unabhängig davon, was ihre Bruderparteien in der Bundesrepublik verkünden -, ist dafür ein erstes deutliches Zeichen. Weitere Punkte aus der Koalitionsvereinbarung, soweit sie bisher durch die Presseagentur 'Reuter‘ bekanntgeworden ist, weisen in die gleiche Richtung: DDR -Bürger sollen für eine Übergangsphase von bis zu zehn Jahren „in ihrem Besitz- und Eigentumsstand nach Treu und Glauben“ gesichert werden und ein Vorkaufsrecht für Grund und Boden erhalten. „Gebietsfremde“ könnten Boden nur in Erbpacht erwerben.

Eigenständige Politik

Auch die Forderung, den künftigen fünf Ländern der DDR im Zentralbankrat der Bundesbank Sitz und Stimme einzuräumen, zielt auf stärkere Nuancierung der spezifischen Interessen der DDR-Bürger. Und wenig Begeisterung bei der Bonner Regierungskoalition dürfte die Forderung auslösen, daß auf dem DDR-Territorium, das nicht in die Nato integriert werden dürfe, eigene Streitkräfte verbleiben, die der Bundeswehr nicht unterstellt sind - bei einer Gesamtstärke der deutschen Armee von unter 200.000 Mann.

So könnte es sein, daß sich auch die treuesten Freunde der bundesdeutschen Parteien unter dem Druck der DDR-Entwicklung gezwungen sehen, tatsächlich eigenständige Politik zu betreiben. Es steht ihnen noch manche Zerreißprobe bevor.

Walter Süß