Harter Kurs gegen Kurden

Das türkische Kabinett verfügt Pressezensur und Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten / Militärische „Lösung“ angestrebt / Opposition trägt harten Kurs mit  ■  Aus Ankara Ömer Erzeren

In den kurdischen Provinzen der Türkei ist die Pressezensur nun offiziell. Die Kompetenzen der nach dem Putsch eingerichteten Ausnahmerechtsverwaltung sind erweitert worden. Die Präfekten können Bürger ohne Begründung aus ihrer Heimat verbannen und Streiks verbieten - so das Ergebnis einer siebenstündigen Kabinettssitzung in Ankara. Das Kabinett erließ eine Verfügung mit Gesetzeskraft, die in den kurdischen Regionen nahezu alle in der Verfassung verankerten bürgerlichen Rechte und Freiheiten außer Kraft setzt. Die Verfügung erschien gestern im amtlichen Gesetzesblatt und ist somit ohne parlamentarische Beratung und Abstimmung rechtswirksam.

Das Kabinett beschloß weiterhin, einen Gesetzentwurf einzubringen, der das Strafmaß für „separatistische Aktivitäten“ verdoppelt. Denunzianten und sogenannte „Reumütige“, die dem Militär Verstecke der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) anzeigen bzw. als Kronzeugen vor Gericht auftreten, sollen aus staatlichen Fonds großzügig entlohnt werden. Der Staatsminister und Regierungssprecher Mehmet Yazar, der im Anschluß an die Kabinettssitzung die Maßnahmen bekanntgab, bestätigte, daß die Maßnahmen auf Anraten des „Nationalen Sicherheitsrates“ gefaßt worden seien. Dem „Nationalen Sicherheitsrat“, der nach dem Militärputsch 1980 eingeführt wurde, gehören die führenden Generäle an.

Generalstabschef Necip Torumtay gilt als der eigentliche Urheber der Maßnahmen. Zunehmend setzt man in Kreisen des türkischen Militärs auf eine militärische „Lösung“ der Kurdenfrage. Da mittlerweile die kurdische Guerilla PKK über Massenanhang in der Bevölkerung verfügt, wäre eine solche Politik ohne Massaker in großem Umfang nicht durchzusetzen. Seit 1984 sind 1.639 Menschen bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Militär getötet worden. In der Vergangenheit beschränkten sich die Kämpfe auf die gebirgigen Grenzregionen nahe des Irak, des Iran und Syriens. Die Zwangsumsiedlungen - die Bauern wurden deportiert oder flohen aus Angst vor dem Terror entvölkerten die gesamte Region. Zehntausende arbeitsloser kurdischer Bauern ließen sich in den Städten nieder. In den vergangenen Wochen brachen in mehreren kurdischen Städten Straßenkämpfe zwischen Armee und Bevölkerung aus. Kinder und Jugendliche warfen mit Steinen auf Soldaten. Die Aufrufe der PKK an die Geschäftsinhaber, ihre Läden zu schließen, wurden fast einhellig befolgt. Türkische Zeitungen sprachen von einer „kurdischen Intifada“.

Die vom Kabinett beschlossene Verfügung war von langer Hand Fortsetzung auf Seite 4

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vorbereitet. Nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 28.März trafen sich Staatspräsident Turgut Özal, Ministerpräsident Yildirim Akbulut und die beiden Oppositionsführer Erdal Inönü und Süleyman Demirel zu einem Spitzengespräch. Die Opposition bekräftigte ihr Ja zu einer härteren Gangart in Kurdistan.

Ministerpräsident Özal schlug vor, die Immunität kurdischstämmiger Abgeordneter, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten in dem Gebiet einsetzen, aufzuheben und Todesurteile an PKK-Mitgliedern unverzüglich zu vollstrecken. „Wir fordern Treue gegenüber der türkischen Republik. Gegenüber jedem, der sie nicht aufbringt, sind wir erbarmungslos“, so Staatspräsident Özal.

„Waffen gegen Waffen“, so der Sozialdemokrat Erdal Inönü. Danach schwor der Staatspräsident in einem Gespräch die Zeitungsverleger auf den neuen nationalen Kurs ein. Fast unbehelligt von Presseberichten

schlugen am Wochenende Armee-Einheiten und Sondereinsatzkommandos in der kurdischen Stadt Batman die Schaufenster von 2.000 Geschäften kurz und klein, weil sich die Ladenbesitzer weigerten, die Geschäfte zu öffnen.

Der türkische Innenminister Abdülkadir Aksu rechtfertigte im nachhinein die illegale Aktion des Staates: „Diese Mörder rufen bei den Bürgern an und sagen, sie sollen um Verbrecher trauern. Die unwissenden Bürger richten sich danach. Wenn die PKK mit Gewalt die Rolläden runterläßt, ist es angeblich kein Verbrechen. Ist es dann etwa ein Verbrechen, wenn der Staat die Rolläden mit Gewalt öffnet?“ Innenminister Aksu hat die Losung ausgegeben: „Es gibt nur eines zu tun: Waffe gegen Waffe. Der bewaffnete Kampf ist das Prinzip.“ Mit der neuen Kabinettsverfügung hat man sich der Zeugen des Massenmordes entledigt.

Medico international hat ein medizinisches Nothilfeprogramm für Kurden in der Türkei begonnen und bittet um Spenden unter dem Stichwort „Kurdistan“ auf das Postscheckkonto Köln 6999-508 oder Frankfurter Sparkasse, Konto 1800.