Der Proporz regiert den DGB

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Das Jammerspiel des DGB bei seiner Suche nach geeigneten Vorstandskandidaten erstreckt sich beileibe nicht allein auf die Unionsparteien. Auch unter den sozialdemokratischen Gewerkschaftern ist die Auswahl an profilierten Persönlichkeiten nicht gerade groß. Anders ist nicht zu erklären, daß ausgerechnet der blasse Chef einer niedergehenden Gewerkschaft zum nächsten DGB-Chef gekürt werden soll. Eine Gestalt mit politischer und intellektueller Ausstrahlung auf die modernen Arbeitnehmergruppen, auf die Frauen, auf die hochqualifizierten Angestellten ist weder im alten noch im neuen DGB-Vorstand zu sehen - und sie wäre doch in diesen bewegten Zeiten so nötig wie nie zuvor.

Das Proporzgewürge der Parteien wird in einer Zeit aufrechterhalten, in der allenthalben die ideologischen Lager in Bewegung geraten sind und parteipolitische Loyalitäten sich lockern. Natürlich ist die Hereinnahme von CDUlern in das höchste Gremium des DGB einerseits ein Ausweis für Pluralität - für eine Einheitsgewerkschaft, in der niemand aus Gründen seiner Parteizugehörigkeit ausgegrenzt wird. Auf der anderen Seite ist dann überhaupt nicht einzusehen, daß sich diese demokratische Tugend nur auf die Bonner Altparteien beschränkt. Schließlich gibt es unter den DGB-Mitgliedern auch viele Anhänger der Grünen. Aber an die Wahl eines grünen oder eines parteipolitisch unabhängigen Kandidaten ist noch immer nicht zu denken.

Und an die Wahl einer Kandidatin erst recht nicht. Wenn es im DGB-Vorstand nicht um Parteienproporz ginge, sondern nebenher auch noch um die Vertretung sozialer Interessen, dann müßten vier, wenigstens drei Frauen gewählt werden. Es müßte jemand gefunden werden, der die Interessen der ausländischen Arbeitskräfte, die dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß unter die Räder zu kommen drohen, mehr als nur repräsentiert. Und angesichts der heraufziehenden Wirtschafts- und Währungsunion müßte der DGB schnellstens bei der Suche nach einer Person fündig werden, die sich mit sozialer Kompetenz und demokratischer Glaubwürdigkeit um den Wiederaufbau gewerkschaftlicher Positionen in der DDR kümmern kann. Vielleicht ist die Kandidatur von Fink wenigstens in dieser Hinsicht ein gnädiger, aber unverdienter Zufall.

Martin Kempe