Staatsanwälte als Strahlenexperten

Aschaffenburger Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungsverfahren im Fall KWU/Demirci ein / BBU spricht von „unglaublichem Skandal“  ■  Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) - Als „unglaublichen Skandal“ hat es der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands Bügerinitiativen Umweltschutz, Eduard Bernhard, bezeichnet, daß die Weltfirma Siemens sich nicht wegen der Verseuchung eines ihrer Mitarbeiter im bayerischen Karlstein verantworten muß. Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg hatte das Verfahren gegen den Siemens-Unternehmensbereich KWU nur sechs Tage nach der Übergabe der Ermittlungakten durch die Staatsanwaltschaft im hessischen Hanau eingestellt.

Bernhard wirft den bayerischen Strafverfolgern vor, einen „Gefälligkeitsakt getätigt“ zu haben. Denn die mit den Vorermittlungen beauftragten Hanauer Staatsanwälte hatten unter Verweis auf vorliegende Gutachten kritischer Wissenschaftler - genau Gegenteiliges konstatiert: Für Oberstaatsanwalt Albert Farwick und Kollegen stand fest, daß der türkische Leiharbeiter Necati Demirci im Siemens Atomzentrum in Karlstein 1985 radioaktiv verseucht worden war und seinerzeit die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung überschritten worden seien. Das hatten zwei anerkannte Gutachter, der Marburger Nuklearmediziner Professor Horst Kuni und die Bremer Universitätsprofessorin Elke Schmitz-Feuerhake, nach umfangreichen Untersuchungen des krebskranken Demirci festgestellt.

Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg hat diese Gutachten schlicht ignoriert. In ihrer Einstellungsverfügung beruft sie sich auf ein anderslautendes Gutachten des Bundesgesundheitsamtes (BGA). Danach waren die zulässigen Grenzwerte bei Demirci nicht überschritten. Für den BBU ist „bezeichnend“, daß der seinerzeitige Gutachter des BGA, Professor Kaul, heute Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz ist. Das Bundesamt ist direkt dem Bonner Reaktorminister Klaus Töpfer unterstellt. Bernhard: „Da hat man den Bock zum Gärtner gemacht.“

Bernhard ist zudem überzeugt, daß entweder die Firma Siemens direkt oder das Bundesamt für Strahlenschutz den Aschaffenburger Staatsanwälten bei der Abfassung der Einstellungsverfügung „hilfreich zur Hand gegangen“ sein müsse. So sei zeitgleich ein von den Grünen des Kreisverbandes-Aschaffenburg angestrengtes Ermittlungsverfahren in gleicher Sache eingestellt worden mit einer 31 Seiten starken Begründung.

Die Akten im Fall Demirci kamen allerdings erst Anfang dieses Monats nach Aschaffenburg. Bernhard: „Das kann doch kein Mensch glauben, daß diese Provinzstaatsanwälte in nur wenigen Tagen eine 31seitige, wissenschaftlich begründete Verfügung selbstständig verfaßt haben. Hier gibt es dezidierte Absprachen zwischen allen Beteiligten.“

Für den schwerkranken Necati Demirci, dem bereits ein Lungenflügel operativ entfernt werden mußte, haben sich nun fast alle Hoffnungen auf Schmerzensgeld und Entschädigungsleistungen für seine Familie zerschlagen. Denn Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Zivilprozeß um Schadenersatz wäre ein erfolgreicher Strafprozeß gegen Siemens gewesen.

Die Tragik im Fall Demirci liegt in der Nichtverantwortlichkeit der hessischen Alkem bei der Strahlenverseuchung. Nur weil die KWU in ihrem Versuchslabor auf bayerischem Boden operierte, mußte die agile Hanauer Staatsanwaltschaft das Verfahren an die atomindustriefreundlichen Kollegen in Aschaffenburg abgeben.