HENGSTE

■ Das große Berliner Ledertreffen

Die Kapitale hat ihr coming out. Das „Mekka für Homosexuelle“ (Anne Klein) richtet sich auf die neuen Versprechen ein. „Diese Öffnung befruchtet beide schwule Szenen, und das schwule Selbstbewußtsein ist enorm gewachsen“, jubelt in seiner neuesten Ausgabe für die 90er Jahre unter dem Stichwort „Berlin“ der 'Gay Guide‘, das Kursbuch für Schwule, aufgelegt, um in jedem Winkel der Welt zielsicher das Gleiche finden zu können. Der geglückte Koitus zwischen Ost und West soll den Markt der Möglichkeiten in der Schwulenhauptstadt auf wundersam -natürliche Weise erweitern. So wie die Ostern- und Pfingstfeiertage traditionell beliebte Termine sind für den reisefreudigen Homo-Profi, so werden die diesjährigen Ostertage zum ersten Prüfstein für das neue Ost-West-Glück.

Der Supermarkt hat angebaut, „Osterdiscount“ überschriftet sich das „große Berliner Ledertreffen 1990“. „Wir erwarten der Szene entsprechende Kleidung“, ordert die Einladebroschüre des Veranstalters „Motor Sport Club Berlin e.V.“ (MSC). Die Szene entspricht sich in karierten Hemden und Lederjacken mit Nieten, Reißverschlüssen und Epauletten, in Stiefeln und Jeans mit Handschellen am Gurt, in Chaps und Cockring, in Geschirr über nackter Brust und Lederriemen über starkem Oberarmmuskel geschnürt. Farben zum Lederschwarz und Jeansblau liefern Tücher, um den Hals geknotet oder in der Gesäßtasche arrangiert. Jede Farbe erzählt eine andere Geschichte, signalisiert den Radius der Aktion: Gelb meint Pisse, Rot den Faustfick, Burgunderrot trägt der Liebhaber von Fesseln und Disziplin, Grün der Stricher, Violett der Transsexuelle in Männerkleidung und Olivgrün der ganze Kerl. Das Tuch in der Tasche links getragen steht für aktiv und der Passive trägt rechts. Der olivgrüne Kerl, links, sucht den Kontakt zu Matrosen, Soldaten, Bullen und Hufschmieden, der Himmelblaue ist Fachmann im Blasen, der Marineblaue dagegen Pionier und der Rotbraune strebt nach grenzenloser Vielseitigkeit. Das vom MSC herausgegebene Wörterbuch der „Taschentuchsprache“ nuanciert in langer Liste die Farben und das Detail.

Solcherart gerüstet kann das Discount-Programm gestartet werden, mit „Begrüßungsabend“, „Ausflug nach Potsdam und Sanssouci“, „Stadtrallye“, „Disco und Flohmarkt“, „Osterfrühstück“ und „Kaffeeklatsch“, „Großer MSC-Show“ und „Brunch“, „Wahl des Mr. Berlin“, „Abschiedsbrunch“ und „Manöverkritik“. Das Berliner Treffen der Ledermänner eröffnet die Ball- und Jagdsaison. Die Termine für 1990 sind dichtgedrängt, 30 Daten sind gespeichert im Kalender: Nach Berlin folgen Rotterdam und Stuttgart, London, Hamburg, Essen, Paris, Aarhus und Frankfurt, ein Sommercamp in Franken, ein „Baltic Battle“ in Stockholm, das „Leather Summit“ in Reykjavik, das Oktoberfest in München und die Fuchsjagd in Roermond. Die Internationale geht übers Material, über Symbole und Zeichen. „Der lähmende Aids -Schock ist überwunden“, meint im Schwulenmagazin 'magnus.‘ einer, der im letzten Jahr rund über den Erdteil unterwegs war. Da wurde in Stuttgart in den Mai getanzt, die Loge 70 lud in eine Waldhütte bei Zürich, die Kölner Panther zogen einen Bauernhof im Siegener Land vor und in Hamburg traf man sich auf einem Stückgutfrachter, der NLC-Franken unterhielt mit deutschen Märchen und der MCRA Lyon präsentierte einen Einsiedelhof mit Sling, Käfig, Kamin und Pißrinne.

Bernd ist 34, Bankkaufmann, Zwei-Zimmer-Wohnung im Seitenflügel, an der Wand ein Safer-Sex-Plakat, im Plattenschrank viele Frauenstimmen. Nach Berlin kam er vor elf Jahren, mit langen Haaren noch, „und ich verliebte mich in jeden Mann, der mich küßte“. Für den Anzug fühlte er sich zu jung, er besuchte noch einmal die Schule, wurde Erzieher. In den Schwulengruppen der Stadt sah er sich um, wurde heimisch, lernte Beziehung und argumentierte gegen den Paragraphen 175. Und dann ging alles ganz langsam vorbei, das Reden wiederholte sich, die Männer schauten auch zu anderen hin, sein Alter ging vorüber. Mit dem Verlust der langen Haare kam der gepflegte Schnäuzer, Wangen und Kinn sauber rasiert. Seine Jeans wurden enger, die Lederjacke kam hinzu und die Erfolge in der Nacht. Er steht wieder am Bankschalter, mit Krawatte, der Streß mit den Kindern brachte nicht genug Geld. Seit drei Jahren besucht er die Ostertreffen des MSC, liest regelmäßig „Unter uns gesagt“, die kleine Zeitung des Vereins, und neben dem Kleiderschrank stehen zwei Paar schwere Stiefel, schwarz und blank. „Ich bin ein Freizeit-Ledermann“, bekennt er, „und ich stehe auch auf andere Männer“. Doch die Treffen möchte er nicht missen, auch nicht das Gefühl, dazuzugehören. Daß mit den Tüchern nimmt er nicht so ernst, „aber manchmal bin ich froh, wenn ich sofort sehe, der will das und das. Da muß nicht lange angemacht werden, ziemlich schnell kann man zur Sache kommen.“ Dahinter stecke keine große Philosophie, und er denke auch nicht so oft darüber nach, über seine Nächte in Leder. „Ich weiß, ich krieg‘ da immer noch einen ab“, und manchmal ginge so eine Geschichte auch schon mal über mehrere Monate. „Aber mit dem Verlieben paß‘ ich auf, da bin ich früher zu oft reingefallen, als ich noch dieser naive Hippie war.“

Vor Jahren versuchte einer den Sozialismus dafür zu loben, daß die New Yorker Lederbars und Darkrooms keine Entsprechung in Moskau hatten. Aber auch das hat sich geändert. In den Kontaktanzeigen suchen „Ost-Kumpels“ ordentliche „West-Kumpels“, die „geile Stute aus Ost-Berlin den geilen Hengst im Westen“, sind „Vopo-Breeches“ im Angebot ebenso wie „gutbestückte Grenzschützer“, kommt der „Lustknabe mit Lustkolben 21 mal 6“ aus Ost-Berlin, wie gehabt, „denn Geilheit kennt keine Grenzen“. Der Eintritt zum Osterdiscount des MSC kann „bei Vorlage eines DDR -Personaldokumentes in Mark der DDR bezahlt werden.“

Der Ton ist allerorten rauh, die Zeichen wild und verwegen, Männlichkeit lebt in jedem Bild. Die eingefangen wird, angebunden, geschlagen und bepißt. Die Mächte und die Mächtigen werden herbeigezaubert, man ist wie im Krieg. Und bei allem Chaos gibt es eine feste Ordnung, die jeden Schritt festhält, ein enges Korsett, das jeden Körper formt. Da sind Grenzen gefallen, die jede traute Phantasie mit Angstlust erfüllt, und doch bleiben die Akteure dabei kinderklein.

eka