TODESSTREIFEN

■ Kleine Geschichte der Gästelisten

Der Überflutungsanlässe waren im Haus viele. Immer schon, seit man den Rand der Stadt bewohnt, der vom Ost-West -Konflikt verhängt wurde. Der war allerdings bislang eher mittelbarer Grund für wechselnde Schwemmen eher nieder- denn hochpolitischer Natur. Eine kleine Sinnchronologie haben die Heim(auf)suchungen trotzdem.

Das Häuschen am Mauerrand hat eine ideologisch bedingte Dehn- bzw. Schrumpffähigkeit. Nach '68 z.B. galt es als südwestliche Revolutionsaußenstelle mit einer Kernbewohneranzahl, die einer mittleren Schulklasse entsprach. Dazu kamen Heimatlose, Vertriebene, Aussiedler, Untertaucher und Politreisende aller scharflinken Schattierungen, die mal kurz unterkommen mußten. Zu Aktionsplanungszeiten oder auch an politbeurlaubten bürgerlichen Wochenenden rollten dann noch, selbstverständlich unangemeldet, größere Innenstadtzellen ein; die Autos parkten auf der damals noch nicht Garten zu nennenden Innerzaunbereichs-Brache. Und Glück hatten die Samstagskommer, da an dem Tag Kühlschrank und Keller noch vom WG-Wochenendeinkauf gut gefüllt waren. Privateigentum gab es nicht. Wer hatte, der gab. Am frühen Sonntagmorgen, wenn an allen verfügbaren Lagerplätzen geschlafen wurde, je nach Jahreszeit auch draußen, war alles leergefressen und weggetrunken. Für die notgedrungenen und gerngeschehenlassenden Gastgeber blieb Sonntagabend dann nur die Alternative: Essen gehen, Hungern für die Revolution oder Spätkauf. Und Montagmorgen mußte der erste Aufsteher vorm Frühstück einkaufen gehen.

Dann ging die Revolutionsära zu Ende. Das Haus schien zu schrumpfen. Zimmertüren wollten jetzt geschlossen sein, tags und nachts, und das hinter allenfalls zwei Personen, wenn überhaupt. Die Planetenringe um den harten Wohnkern, der jetzt nurmehr etwa sechs Personen umfaßte, tauchten hoch oder unter. Es kamen aber weiter die Sonnen-, Kühlschrank-, Schlafplatz- und GartenliebhaberInnen. Hallo, die Sonne scheint so schön, da sind wir rausgefahren zum Spazierengehen und dachten, wir gucken mal, ob jemand da ist. Ihr habt doch den tollen Garten. So und ähnlich hieß jetzt das Eintritt-Berechtigungspaßwort (in der Vorära hatte es natürlich überhaupt nie Begründungen fürs Hiersein gebraucht).

Dann kamen neuerdings Verwandte aus Westdeutschland und Freunde aus der präpolitischen Zeit; solche, die die Transitfahrt durch den Todesstreifen DDR wagten. Da wurden vom Haus dann auch schon saubere Handtücher ausgegeben. Und die Anfluter begannen Gäste zu heißen und wurden lästig, wenn sie zu häufig kamen und zu lange blieben. Man wurde privat. Das Haus vollzog einen weiteren Schrumpfakt und hatte nur noch Platz für zwei Männer plus jeweiliger Damenerweiterung, die sich als vorübergehende Dauerbeiwohnerinnen betrachten durften.

Die Gästeliste bereicherte sich jetzt um eine weitere Spezies, die Billigtouristen: Ich bin eine Freundin, ein Vetter, ein Dingsbums von soundso, habt ihr mal Platz für einen Bekannten; der kennt Berlin nicht, hat kein Geld und bleibt nur kurz. Nach einem heftigen Höflichkeitsschub in den frühen 80ern sahen die Hausbewohner sich plötzlich als Oberkellner, Putzfrauen, Köche, Waschmaschinen, Wecker und Reiseführer - Mauer + Osten inklusive. Man hatte dazu kleine exklusive Touren ausgearbeitet. Und die führte jeweils der bzw. die aus, die dem jeweiligen Neffen des Bekannten der Schulfreundin einer ehemaligen WG-Genossin am nächsten stand. Steinstücken gehörte immer dazu. Je nach Fußfrische bzw. Klapprigkeit der Dr.-Tigges-Ersatzreisenden konnte man das vom Gartentor aus auch zu Fuß erledigen.

Zur Zeit der Rückeroberung dieser ehemaligen Exklave war übrigens nicht so sehr im Haus als davor die Hölle los: Plötzlich mußte ein Verkehrspolizist an die Kreuzung gestellt werden, wo sonst 30 Wagen pro Stunde verkehrten, um die Massenbesichtigungsflotte zu steuern. Kaffee-Abstecher ins Haus blieben nicht aus. Die Mauer an drei Seiten hielt ansonsten motorisierte Durchflußströme die bekannten 28 Jahre lang einigermaßen fern. Und das Haus liebte sie dafür.

Aber jetzt! Ost- und West- und Berlinfremdlinge klingeln wochenends unverhofft am Gartentor: Wo es denn nach x ginge, was das für eine Pflanze da hinten sei, ob das Autowrack im Garten käuflich sei, wie diese Hunderasse heiße, wer denn in dem zerrütteten Nachbarhaus wohne, man möchte es erwerben usw. usf. Bekannte telefonieren neuerdings, bevor sie kommen, bringen dafür aber die jüngsten Selbstverwirklichungsprodukte in Form von Kleinkindern mit, die dann die Hunde quälen, ins Schwimmbecken fallen und im übrigen nahezu jede Unterhaltung verhindern, die sich allerdings ohnehin nur um ebendiese prinzlichen Monster dreht.

Diese gebündelten Erfahrungen nun ließen die Hausbewohner, die jetzt nurmehr drei an der Zahl sind und, antitrendmäßig, immer noch eigenbrödlerisch und -sinnig jedem Kleinfamilienidyll abhold, in Erwartung des drohenden überflutungs-Osterwochenendes zu härtesten Vorbeugungsmaßnahmen greifen. Sie haben den historischen und durch außerprivate Umstände inzwischen abgeschafften Eisernen Vorhang um ein paar hundert Meter verlegt und kurzerhand quasi direkt an ihrem Gartenzaun neu errichtet. Über die Festtage tritt der private Todesstreifen in Kraft. Eingekauft wurde komplett am Donnerstag, das Auto ist in einer Seitenstraße geparkt, der Anrufbeantworter meldet höflich Unerreichbarkeit, und die Bewohner werden das Grundstück vier Tage nicht verlassen.

Und dann wird abends der Wirklichkeitshersteller angeknipst, der das freiflutende Chaos kanalisiert. Alles, was unbefugt zu nahe rückt, wird abgeschossen - ein Fingerdruck genügt. Nur gemeldete Katastrophen werden schön sein. Und die können nicht nah genug passieren.

Kohlhäsin