NICHTS LÄUFT MEHR

■ Aus dem Leben eines ehemaligen Fluchthelfers

Was dem einen die Überflutung, ist dem anderen die Unterflutung. Die freigesetzte gesamtdeutsche Massenmobilität spülte Klaus Karl (der richtige Name ist der Redaktion bekannt) buchstäblich die Existenz unter den Füßen weg: Bevor der 9. November seinen Arbeitsplatz vernichtete, ging Klaus Karl dem Beruf des Fluchthelfers nach.

Diese Tätigkeit setzte Klaus Karl in die Situation eines gewissen Wohlstands, dem er in einer Eigentumswohnung (beste Citylage), einem englischen PKW (8 Zylinder) und einer teueren Freundin (blond) gestalterischen Ausdruck gab. Offiziell ging der examinierte Sozialpädagoge, Ex-Kneipier und amtsärztlich beglaubigte Frührentner dem Importgeschäft mit indischen Räucherstäbchen nach. Nur dem engsten Freundeskreis, zu dem ich mich seit Jahren zählen darf, ist seine wirkliche Einkommensquelle bekannt.

Wer diesem engeren Freundeskreis zuzurechnen war, stellte sich jedes Jahr am Ostersonntag heraus: Der Tag, an dem Klaus Karl auf einer gedruckten Einladungskarte die „Gemeinschaft zum Abfeiern des Status quo“ (GAS) zur ausschweifenden Party in seine Wohnung bat. Daß er ausgerechnet den Osterfeiertag für dieses üppige Gelage auswählte, mag Karls ausgeprägter Repräsentationslust zuzuschreiben sein. Er hatte es eben geschafft.

Denn, hatte er früher die Unübersichtlichkeit des feiertagsbedingt hohen Verkehrsaufkommens auf den Transitautobahnen für den illegalen Menschentransfer von Ost nach West benutzt, indem er sich selbst hinter das Steuer seines Campingmobils setzte, so ließ er ab irgendwann fahren. Klaus Karl organisierte diese Fahrten nur noch vom Schreibtisch aus. „Ein planvoll agierender Unternehmer arbeitet an Sonn- und Feiertagen nicht“, pflegte er zu scherzen, während andere für ihn die bekannten Kastanien aus dem Feuer holten.

So traf man sich also jährlich zu diesen eigenartigen Ostersonntagparties, auf denen der Champagner floß, wie er stets fließen sollte - in Strömen. Daß diese Festveranstaltung nicht nach jedermanns Geschmack waren, mag man daraus ersehen, daß Klaus Karl in seinem Selbstdarstellungswahn allen Partygästen mitunter recht geschmacklose Präsente überreichte. So verteilte er einmal und lange bevor dies in Berliner Zuhälterkreisen in Mode kam - handwerklich sauber gearbeitete Rolex-Imitationen und amüsierte sich wie Bolle über die erst ungläubig erfreuten und dann indignierten Gesichter der Beschenkten.

Dieses Jahr nun blieb die Einladung aus. Besorgt erkundigte ich mich am Telefon nach Klaus Karls Befinden. „Na ja, du liest ja auch Zeitung. Also kannst du dir doch vorstellen, daß nichts mehr läuft. Ich hätte eben eher diversifizieren sollen. Auf einem Bein steht man schlecht - noch dazu, wenn es ab ist.“ Ich versprach ihm meinen Besuch für die nächsten Tage. Man könne dann ja in Ruhe und gemeinsam überlegen.

Doch kaum habe ich seine Wohnung betreten, bereue ich auch schon meinen menschenfreundlichen Entschluß: Der Mann ist einfach fertig. Statt Drei- ein Sieben-Tage-Bart, Mundgeruch, tiefe Ringe unter den Augen, verschwitztes Hemd. Er serviert mir einen lauwarmen Orvieto und erklärt: „Eva hat mich auch verlassen. Die war nur scharf auf das Geld. Mit der offenen Ungarngrenze kam das Geschäft schon ins Schlingern. Da konnte ich zwar die Lebenshaltungskosten noch durch den Verkauf von den ganzen Bildern kompensieren.“ Er zeigt dabei traurig auf die weißen Wände. „Aber als dann über Nacht das Schlamassel durch die Mauer brach, war's aus. Es hat keine drei Wochen gedauert, und sie war schon mit einem Immobilienhändler zusammen.“

„Und, kannst du jetzt nicht auch in Ost-Immobilien gehen?“ fragte ich mitfühlend. Klaus schlurft zum Kühlschrank und ruft: „Der Wein ist aus.“ Also nippen wir an Eckes -Edelkirsch.

„Erstens verstehe ich von Immobilien nichts, und dann fehlt mir dafür das nötige Kleingeld. Ich mußte schon mein Wochenendhaus in Calpe verkaufen“, klagt er.

„Das ist hart“, pflichte ich bei. Schweigend sitzen wir uns gegenüber. Klaus hat sich offensichtlich bereits an den Edelkirsch gewöhnt. Wie selbstverständlich schenkt er sich zügig nach. Leicht angetrunken seufzt er: „Dieser Scheiß -Krenz!“ „Wer?“ „Na der nach Honecker“, erklärt er. „Ach ja der, der die Mauer aufgemacht hat.“ „Ja, der.“ Wieder versinkt er in dieses dumpfe Brüten.

„Wie wär's mit Meißner Geschirr“, versuche ich ihn anzustoßen. Er schüttelt den Kopf. Doch ich will ein Brain -storming zwingen und fahre fort: „Glas aus Jena? Blockflöten, Geigen, Schallplatten? Zahngold? Holzspielzeug aus dem Erzgebirge?“

Klaus winkt ab: „Das macht doch heute jeder. Da liegt ja das Problem. An der Grenze wird überhaupt nicht mehr kontrolliert. Nur noch den Polen machen sie Schwierigkeiten. Und deshalb muß ich jetzt auch fahren.“ „Was? In dem Zustand und wohin überhaupt?“ frage ich irritiert. Klaus Karl steht schwankend auf. „Verstehst du denn nicht? Die kleinen schwarzen Nummernschilder werden bei der Einfahrt nach West -Berlin stundenlang aufgehalten. Die ganzen Autos werden vom West-Zoll durchwühlt. Wenn die nichts finden, verweigern sie die Einreise wegen abgefahrener Reifenprofile. Das heißt: die mittelständischen polnischen Handlungsreisenden verlieren einen Haufen Zeit und Geld. Und deshalb fahre ich jetzt in die DDR. Dort lassen ein paar Polen ihr Auto stehen und steigen zu mir in den Wagen. Ich fahre dann zollfrei zum Polenmarkt.“

„Und, lohnt sich das?“ will ich wissen. Klaus Karl zuckt die Schultern. „Was soll schon beim Handel mit kaschubischem Porzellan und zollfreien Zigaretten herauskommen. Aber man lebt.“

Ich begleite ihn zu seinem neutral lackierten Kleinbus. Als er den Motor anläßt, ruft er mir noch zu: „Das mit unserer Osterparty wird natürlich nichts. Da fahre ich die Polen ohne Visa in die BRD. Das bringt 'n bißchen mehr.“

Peter Blie