EINE RÖMISCH- KATHOLISCHE GRÄFIN...

■ ...besucht Berlin während der Stellproben für die Wiederauferstehung

Weißhäutig und sehr nervös, elegant, durchsichtig und naserümpfend, sichtlich gepeinigt vom Anblick schwerbepackter, schlechtgekleideter Menschen mit einem ihr unbekannten Ziel, irrt die Gräfin an der Mauer entlang. Hätte ihre Mutter nicht aristokratischen italienischen Partisanengenerälen die passenden Stempel in die gefälschten Pässe gedrückt, hätte die heute sechzigjährige Tochter vielleicht schon früher die Gelegenheit gehabt, Groß-Berlin zu besuchen. So aber muß sie sich mit dem lächerlichen zweiten Aufguß der Hauptstadt begnügen. Sie macht sich allerdings auch nicht die geringste Mühe, ihre bittere Enttäuschung zu verbergen: Man hatte uns ja gesagt, jetzt sei alles offen, ganz und gar, meinen Sie denn, sonst hätte ich diese wahnwitzige Reise von Rom nach Berlin unternommen? Aber vielleicht ist es sogar gut so, daß die Mauer in Wirklichkeit noch steht, wissen Sie, im italienischen Fernsehen hatte man ja den Eindruck erweckt, es stehe kein Stückchen mehr, Sie kennen ja den Enthusiasmus der Italiener, aber so oder so, es ist doch alles Betrug. Meine Enkelsöhne wären sicher ganz begeistert und würden sich sofort eine von diese Vopo-Kappen hier kaufen, aber ich werde ihnen natürlich keine mitbringen, das ist ja der absolute Gipfel der Geschmacklosigkeit. Diese Mühe, die die Menschen sich hier machen beim Herausmeißeln dieser Steinchen. Sie sollten sie in Eierform herausschlagen, es ist doch bald Ostern.

Es scheint, als habe sie sich verlaufen, aber für Aufklärung über die tatsächliche geografische Lage der Hauptstadt ist ihre Gräflichkeit vollkommen taub. Sie fragt sich vielmehr, warum es Gorbatschow, den sie sehr verehrt (aber „man wird ihn umbringen, so viel ist sicher!“) noch nicht gelungen ist, einen ungehinderten Zugang für Italiener von West-Berlin nach Potsdam zu schaffen, dorthin, wo es wenigstens noch ein älteres Schloß gibt. Das nun soll freies Reisen sein, daher seien wohl auch alle so schwer bepackt hier, aber was das überhaupt für eine Stadt sei, die man nicht einmal in einem Intercity erreichen könne und deren Haupt(stadt)bahnhof aus ridikülen vier Gleisen bestehe. Gewiß, Rom sei nicht das Maß aller Dinge (der Untergang der Metropolen ist ja ein internationales Phänomen), auch sei sie auf das historische Nichtvorhandensein eines historischen Zentrums durchaus vorbereitet gewesen, aber sei es denn wirklich unvermeidbar gewesen, neben eine kaputte ältere und ohnehin architektonisch völlig wertlose Kirche eine noch häßlichere neue zu stellen? Hier seien zweifellos die Amerikaner am Werk gewesen. Ob überhaupt irgendetwas Sehenswürdiges stehengeblieben sei, irgendein winziger Überrest vielleicht, denn der Amokläufer Hitler vielleicht übersehen habe, vergessen, aus Versehen stehengelassen habe? Irgendeine Erinnerung? Schönere Häuser mit ein wenig älteren Fassaden? Hermetische, gut gefüllte Kaufhäuser, indiskutabel wegen gräflicher Klaustrophobie. Der Kudamm, schön und gut, aber ich bin doch nicht hierhergekommen, um einzukaufen, ich bitte Sie! (Welche Italienerin käme schon zum Einkaufen nach Deutschland?) Die zwei Leierkastenmännchen mit den zwei Äffchen auf dem Europaplätzchen, Firlefanz. Alles andere unrettbar verloren, so ganz dahin? Aber nein, es gibt ja soviel: die Cafes, das Ambiente, diese unvergleichlichen Menschen hier: Um Gottes Willen, schleppen Sie mich nicht dahin, wo viele Menschen sind, das Volk ist doch überall das gleiche!

Auf dem Potsdamer Platz erreicht der händeringende Kummer der Gräfin über die Unauffindbarkeit von Wiedererkennbarem seinen Höhepunkt. Ein paar käuflich erworbene sogenannte historische Postkarten mit Ansichten vom „alten“ Berlin steigern nur ihr tiefes Mißtrauen. So, das ist ja wunderbar, daß das hier einmal die pulsierende, blühende Verkehrsader der Stadt gewesen ist, schön, sehr schön, und jetzt hat man sogar eine Magnetbahn?, das ist ja ganz fantastisch, großartig, da brauchen diese Menschen hier bald nicht mehr ihre Taschen zu schleppen, die ganzen Mauersteinchen sollte man mit der Magnetbahn mal hier-, mal dahin transportieren! Es bleibt ihr auf der Suche nach dem unrettbar Verlorenen nur noch die Flucht nach innen, über das Kulturforum hinein in die schützenden warmen Säle der Museen, Galerien und Konzersäle, auf daß sich das gräfliche Herz erquicken möge! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wenn es die Nofretete hier nicht gäbe, es käme bald niemand mehr nach Berlin.

Nur auf dem Weg zum Brandenburger Tor (eingerüstet wie fünfzig Prozent aller Sehenswürdigkeiten in Rom und deshalb eine Alltäglichkeit) bleibt sie stehen und bricht in schallendes Gelächter aus, als sie den Friedensrufer erblickt, der sich in seinem büßerhaften Kapuzenmäntelchen beflissen nach Osten wendet, um mit der Stimme Petrarcas zu rufen: Ich gehe in die Welt und rufe Frieden, Frieden, Frieden, und die Japaner, die knipsen, knipsen, knipsen, wissen Sie, die tun mir sehr leid, diese Japaner, die können doch beim besten Willen nicht wissen, was sie da eigentlich fotografieren, man sollte gleich hingehen und es ihnen erklären, wirklich, aufklären sollte man die Armen!

Und hier, am Brandenburger Tor möchte ihre Gräflichkeit passieren, aber sie darf nicht. Wieso sie denn nicht dürfe, jetzt sei doch alles eins? Ja, schon, eins für die Deutschen, aber sie sei ja keine Deutsche, sie sei ja wohl Italienerin! Es soll nur für ein paar Minuten sein, einmal über den Platz und Unter den Linden lang (das hat sie tatsächlich irgendwo gelesen), und dann komme ich gleich wieder zurück! Tatsächlich gelingt es ihr, gegen eine geringen Betrag für die Kaffeekasse zu passieren. Hocherhobenen Hauptes stolziert sie, ohne dabei nach links oder rechts zu sehen, Unter den Linden entlang, drei Runden um den Alexanderplatz verursachen ihr Schluckbeschwerden, nur das goldene Kreuz auf dem Fernsehturm, die „Rache des Papstes“, verschafft ihr eine Art von Genugtuung, dabei glaubt sie weder an den Papst noch an Gott, denn sonst hätte es ja wohl Hitler nicht gegeben! Als sie an das Wächterhäuschen zurückkehrt, lächelt sie den Beamten hinterhältig an und beteuert in gebrochenem Deutsch, sie brauche ihren Paß nicht mehr, sie gehen nicht zurück nach Rom, Berlin sei wunderschön!

Es ist eine Depression gräflicher Güte. Am Montag muß ich weg sein aus der Stadt, denn am Montag haben doch alle Museen geschlossen wie überall, und wenn alle Museen zu sind, was soll ich dann noch hier? Abgesehen davon glaube ich, daß ich das Notwendige gesehen habe, ja wahrscheinlich habe ich wirklich alles gesehen, ich meine, das, was noch übrig ist. Aber wissen Sie, meine Liebe, das sage ich Ihnen gleich, aus dieser Stadt wird nichts mehr, kann wohl sein, sie machen eine Hauptstadt daraus, aber das ist ohnehin Betrug, und ich erkläre Ihnen auch gleich warum: eine Stadt, die ihrem Führer soviel Zeit läßt, genug Zeit zumindest, sich in aller Ruhe zu vergiften oder zu erschießen oder beides und vorher auch noch in aller Ruhe Hochzeit zu feiern mit seiner kleinen Schlampe, eine Stadt, die einen Feigling derart gewähren läßt, so eine Stadt ist verloren. Ich sag's Ihnen, wie es ist, denn bei uns wäre das nicht passiert, und wäre er schon dreimal tot gewesen, sie hätten ihn doch aus seinem Bunker herausgegraben und in Stücke geschnitten und an die nächste Laterne zum Trocknen aufgehängt, Sie wissen ja, wie man das bei uns gehalten hat mit diesem verrückten Hampelmann Mussolini, dieser lächerlichen Witzfigur, erschossen und aufgeknüpft in aller Öffentlichkeit, jawohl, da hing er dann tagelang mit dem Kopf nach unten, und das Blut tropfte schön langsam aus ihm heraus, und alle konnten es sehen, sicherlich kein besonders schöner Anblick, bespuckt, zerstückelt und zerstochen, aber dem gerechten Volkszorn preisgegeben, ganz wie es sich gehört für einen verrückten Hampelmann! Dabei war der doch genau besehen doch nicht halb so gefährlich wie Ihr Hitler, dieser gräßliche Mensch, dieser Wahnsinnige, bei dem man immer das Gefühl hatte, er würde sich in seiner inneren Wut und Raserei verschlucken, eine schreckliche Kreatur, als Kind habe ich ihn mal gesehen, nein wirklich, kein einziges Wort konnte man von dem verstehen, was er halberstickt herausbrüllte. Ich habe ja später sogar Deutschkurse belegt am Goethe -Institut, und ich verstehe ja eine ganze Menge, aber glauben Sie, ich hätte bei diesen historischen Aufnahmen auch nur ein Wort verstanden? Und jetzt schauen Sie sich um in dieser Stadt, nicht ein Stückchen hat er davon übriggelassen, dieser Psychopath, und dafür hat er sich nun vollkommen ungestraft aus dem Staube gemacht. Irgend jemand hätte doch wissen können, wo er sich befindet, herausgeholt hätte man ihn und direkt dort an das Brandenburger Tor gehängt! Dafür wäre schließlich Platz genug gewesen oder etwa nicht? Da ist doch Platz für ein ganzes Nazibatallion! Und was machen sie statt dessen? Hauen Ostereier aus der Mauer.

Felicitas Hoppe