„Die Geschichte wird umgeschrieben“

Gespräch mit Wladimir V. Nikotin  ■ I N T E R V I E W

Der Dipl. oec. Wladimir V. Nikotin (gesprochen: Nikotschin) leitete bis 1988 die Vertretung der Handels- und Industriekammer der UdSSR in der Deutschen Demokratischen Republik und wechselte dann in leitende Position des Außenhandelsministeriums, Abt. BRD. Mit Gero Großkopff verbindet ihn eine langjährige Freundschaft.

taz: Der Abriß des Ehrenmals der Roten Armee als Spektakel. Tut das nicht weh?

Nikotin: Mir persönlich nicht. Aber es gibt sicher einige Militärs, die die Welt nicht mehr verstehen.

Und die haben überhaupt keinen Einfluß mehr auf die Außen und Handelspolitik der UdSSR?

So würde ich das nicht sagen. Der Einfluß besteht zweifellos immer noch. Aber er geht zurück. Die Armee ist im wesentlichen für die innere Stabilität der Nationen von Bedeutung.

Ehrenmalabriß, Rückzug auf den inneren Feind. Heißt das, daß die Rote Armee ihre Identität als antifaschistische Kampfkraft aufgibt?

Das ist momentan eine ganz schwierige Phase. Nehmen Sie die jüngsten Meldungen über die Massengräber in ehemaligen sowjetischen Internierungslagern. Die Zeitungen sind doch da beim Ausbuddeln in erster Spatenfront. Da passieren dann so Gleichsetzungen von Buchenwald unter Hitler und Buchenwald unter Stalin. Wenn ich Ihnen jetzt noch erzähle, daß ein befreundeter Geschichtsprofessor in Moskau in einer Forschungskommission zu dem Resultat gekommen ist, daß Stalin ohnehin den Krieg mit Deutschland plante, Hitler ihm also nur zuvorgekommen ist, dann können Sie sich an fünf Fingern abzählen, wie Geschichte umgeschrieben wird: Deutschland hat einen Präventivkrieg geführt, die glorreich befreiende Sowjetarmee war nichts anderes als eine Okkupationshorde. Das ist der Grund, warum wir uns leichten Herzens von dem Kriegsdenkmal in der Straße des 17. Juni getrennt haben.

Interview: OWe