HURRA, WIR SIND WIEDER DA!

■ Wartburgtourismus im Zeichen der deutschen Wiedervereinigung

Luther und die Bibelübersetzung, die mildtätige Elisabeth, der Sängerwettstreit höfischer Minnesänger, Goethe, die Fresken Moritz von Schwinds und das Wartburgfest: die Wartburg bei Eisenach ist ein herausragender Ort deutscher Geschichte. Seit Öffnung der DDR-Grenzen ist sie auch eine herausragende Touristenattraktion.

Im Zuge der Wiedervereinigung wird die DDR neu besetzt. Noch steht die Wartburg unverrückt seit 900 Jahren. Wer könnte sie je schleifen, wenn nicht die touristische Invasion?

Während im vergangenen Jahr knapp 40.000 Besucher bei Führungen gezählt wurden, waren es bis Ende März bereits über 100.000. Selbst an trüben Wochentagen werden im scharfkalkulierten Zwanzigminutentakt Besucherpulks durch die Räumlichkeiten des Schlosses geschoben.

Früher, so berichtet eine Mitarbeiterin der Wartburgstiftung, kamen an solchen Tagen nur wenige Gruppen nach Voranmeldung. Jetzt drängen sich unzählige andere Besucher zwischen Schulklassen und Reisegruppen. Normalerweise sei die Vorfrühlingszeit Sauregurkenzeit, in diesem Jahr herrsche täglich Hochbetrieb wie sonst nur zu Spitzenzeiten. Die Wartburg stünde an der Grenze ihrer Besucherkapazität. Die Wartburgdame, die derzeit täglich bis zu sechs Führungen leitet, macht sich Sorgen um ihre Stimme. Aber eigentlich macht ihr der zu erwartende Osteransturm Sorgen und die „Jahrhundertschlacht“, die in den Sommermonaten droht.

Bislang ist sie noch fit - trotz tiefer Stimme. Ihre Führung läßt eine solide sozialistische Grundausbildung erkennen. Was sonst hinter verblasenen standardisierten Formulierungen verschwindet, benennt sie anschaulich und präzise. Statt die „sagenhafte Gründung der Burg um 1067“ zu zitieren, spricht sie vom Landraub. Auch in ästhetischen Fragen bezieht sie Stellung und klärt die Besucher darüber auf, daß der Eindruck historischer Authentizität der Prunkräume ein Phantasieprodukt des 19. Jahrhunderts sei und Moritz von Schwind derjenige Maler, der dieses Flair durch seine Fresken künstlich hergestellt habe; desgleichen Wilhelm II., indem er einen Raum im Stile byzantinischer Mosaiken auf „alt“ herrichten ließ.

Nach Abschluß der Führung sind die Besucher über die Wartburggeschichte einschlägig informiert. Aber viele sind enttäuscht. Sie hatten sich von der Wartburg irgend etwas anderes versprochen, irgend etwas Monumentales, was ihrer geschichtlichen „Größe“ auch äußerlich entspricht.

Die Wartburg übt eine magische Anziehungskraft aus. Allen voran waren es die Hessen, die in den letzten Monaten die Burg heimsuchten. In ähnlicher Weise, wie in der Vorweihnachtszeit DDRler die grenznahen bundesdeutschen Städte bevölkerten und in den Fußgängerzonen für volksfestähnliche Stimmung sorgten, stürmen die Bundesdeutschen jetzt die Traditionsorte in der DDR. Sie fahren mal kurz rüber, häufig verwundert, wie nah alles liegt. Besonders aus der Generation der heute 40- und 50jährigen haben viele keine realen Entfernungsvorstellungen. Im Zonenrandgebiet aufgewachsen, in Unsicherheit und mit chronisch geschürten Ängsten vor Russen, mit Propagandahetze und nahen Wachtürmen, vermuteten sie Orte wie Eisenach in weiter Ferne. Ein kurzer Trip auf die Wartburg schafft klare Verhältnisse und wischt die böse Geschichte vom Tisch.

Die Alten zwischen 60 und 80 Jahren, die jetzt verstärkt in organisierten Reisegruppen auftreten, besetzen dagegen ihr ehemaliges „Hinterland“ neu. Die Grenze kappte seinerzeit die traditionellen wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen nach Thüringen. Städte wie die Nordhessenmetropole Kassel wurden vom östlichen Hinterland abgetrennt und versanken in provinzielle Abgeschiedenheit. Jetzt, so scheint es, könnte die Großregion neu erblühen. Neugierig - und oft genug habgierig - inspizieren die Besucher „ihr“ altes Land. Alte Gefühle der Zusammengehörigkeit leben auf. Das 50er-Jahre-Flair der DDR macht es ihnen leicht, an fast Vergessenes anzuknüpfen.

Neben den Hessen kommen zunehmend Besucher aus anderen Bundesländern, vor allem aus dem angrenzenden Bayern und aus Niedersachsen. Bislang war die Wartburg auf ihre Besucher ausreichend vorbereitet. Im letzten Winter blieben viele der notwendigen Renovierungsarbeiten liegen. Die Gastronomie der Burg lebt noch den alten Rhythmus: Das Schloßcafe ist - wie immer während der „ruhigen Monate“ - geschlossen. Auch die Restaurants schließen mittags pünktlich um 14 Uhr. Hungrige Besucher müssen sich auf Kaffee und Kuchen am Nachmittag gedulden.

Die Eisenacher Bevölkerung nimmt indes bestürzt zur Kenntnis, daß sie überrollt wird. Zum hausgemachten Gestank und Dreck kommt jetzt der Ausstoß der Blechlawinen aus dem Westen hinzu. Nur mäßig nutzen die Besucher die Angebote der öffentlichen Verkehrsmittel. In und um Eisenach und um die Wartburg herum ist an den Wochenenden der Parkraum erschöpft. In der Lokalpresse diskutieren Bürger derzeit offen über das Parkplatzchaos und suchen nach Lösungswegen.

Die Direktorin der Eisenacher Touristeninformation gibt sich scheinbar optimistisch und hofft noch, „Weichen stellen zu können“. Besserwisserisch könnte man ihr vorhalten, daß sie die Mechanismen des harten Massentourismus noch nicht kennt. Die Wartburg hat keine Chance, als Objekt eines „sanften Tourismus“ in die neuere Geschichtsschreibung einzugehen. Dafür ist sie viel zu „deutsch“ und mindestens so populär wie Neuschwanstein.

Wenn die Hessenwelle abebbt, werden andere kommen. Bereits am Tag nach der Wahl überraschte die Kir-Royal-Karikatur „Leo“ Lukoschik seine Fernsehzuschauer mit einer Sendung direkt von der Wartburg. In seiner aktuellen In-und-out -Liste für die gehobene Schickimickiszene kam die Wartburg selbstverständlich nicht vor, denn sie ist ein unantastbarer Bestandteil Deutschlands und somit über Geschmacksurteile erhaben.

Wer sie unbedingt besuchen muß, dem gibt die Direktorin der Touristeninformation folgenden Rat: „Ich würde empfehlen, die Wochenenden und möglichst auch den Freitag zu meiden, die Wartburg am frühen Vormittag zu besuchen und sich am besten selbst etwas Eßbares mitzubringen.“

Christel Burghoff