Berliner Notizen IX

■ „Während die neue Geschichte im Kochtopf schmort oder schon anbrennt, suche ich in diesem Land die Reliquien des Alten“

Cees Nooteboom

Regelmäßig hört man sagen: „Wir leben in historischen Zeiten.“ Ich habe mich auch dabei ertappt, nicht nur bei diesem Ausspruch, sondern auch bei dem dazugehörenden Hauch von Selbstzufriedenheit, als wären wir auf einmal alle ein bißchen wichtiger geworden, weil wir mit den Ereignissen nicht mehr Schritt halten können. Jeder weiß, daß diese Einheit kommt, ist aber zugleich jeden Tag aufs neue verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit das alles vor sich geht, als hätten die Entwicklungen eine ganz eigene Dynamik erhalten, die sich jeder Kontrolle entzieht. Was gestern undenkbar war, wird heute formuliert und morgen amendiert, und was ich hier auch aufschreibe, wird dann, wenn dieses Stück erscheint, veraltet sein, ein weggeschobenes Teilchen im sich dauernd bewegenden Kaleidoskop.

Am ruhigsten sind vielleicht noch die großen Drahtzieher und die Geschäftsleute, die, vom politischen Palaver unberührt, ihre Claims in der DDR abstecken und inzwischen das Glockengeläut der Schlagzeilen genau beobachten. Und wenn man diese Schlagzeilen wie Bridge-Karten in der Hand hält, ist man über die Aufeinanderfolge bestürzt. Nur Trümpfe! Wer heute in der 'Süddeutschen‘ noch Modrow-ohne -Land heißt, umarmt morgen zur Überraschung seiner eigenen Partei die deutsche Einheit, sei es mit Neutralität, behauptet übermorgen schon, daß er diese Neutralität nur zur Diskussion gestellt habe. Modrow übergibt sich, sagt dann die tageszeitung und überspült das tags drauf mit „Nato sucht Lebensraum im Osten“.

Inzwischen schwärmen westdeutsche Politiker in die künftigen neuen Bundesländer aus, um die Position ihrer Parteien abzusichern. Ob es von der ganzen Turbulenz und dem scheinbar überall doch noch vorhandenen politischen Bewußtsein kommt, weiß ich nicht, es scheint jedoch, als gäbe es kein Heute mehr: Die flüchtigen Momente, in denen all diese Wendungen, Verhandlungen, Beschlüsse, Gegensätze stattfinden, scheinen entweder schon zum Geschichtsbuch zu gehören oder von der freßgierigen Zukunft verschlungen zu werden, die nur noch mit immer mehr Veränderungen befriedigt werden kann.

Thatcher und Mitterrand wohnen inzwischen in Ozeanien, sogar die östlichen Nachbarländer sind hinter Nebelbänken verschwunden, nur Gorbatschow folgt man noch bei seinem einsamen Abenteuer, weil jeder hier nach dem alten Gesetz des „Gleichgewichts“ verdammt gut weiß, daß dort, wo er noch den Ton angibt, der „andere“ Brennpunkt Europas liegt.

Ich bin auf dem Rückweg von München nach Berlin in Regensburg. Während die neue Geschichte im Kochtopf schmort oder, wer weiß schon, anbrennt, suche ich in diesem Land, das ich immer noch nicht gut kenne, die Reliquien des Alten. Diese zusammengebrachten Gebiete, die zusammen Deutschland hießen und das bald wieder tun werden, sei es mit einer kleinen Korrektur, haben sich schließlich vor fünfzig Jahren auch in mein Leben eingemischt, und auf dieser historischen Pilgerreise sind die Bauten und Städte, die ich besuchen möchte, die versteinerten Illustrationen zu der Geschichte, die ich gerade lese.

Mit der kleinen Korrektur meine ich natürlich die Grenzen, über die so viel geredet und so viel geschwiegen wird. Auf einer kleinen Titelseite der taz, die das ganze Deutschland darstellt, liegt das exzentrische Berlin plötzlich sehr nahe an der Ostgrenze. „Da muß eigentlich noch ein Stück Land dahinter“, sagt derjenige, der mir das zeigt, spottend. „Eine Hauptstadt müßte doch etwas mehr in der Mitte liegen?“ In was für Mitten kann man auf anderen Karten sehen, auf denen die Claims einer nostalgischen Minderheit mit gestrichelten Linien angegeben sind. Es muß komisch sein, vor den eigenen Landsleuten Angst zu

haben

Der Ausländer spielt in diesen Tagen in einigen, eher aufgeklärten deutschen Gesellschaften eine etwas merkwürdige Rolle: Man möchte wissen, wie er darüber denkt, die eigene Unruhe, Abneigung oder Angst am anderen abwägen, von dem man vermutet, daß er in irgendeiner Art aus historischen Gründen doch wieder gegen „gefährliche Entwicklungen“ voreingenommen sein wird. Es ist, als wären sie vor sich selber bange und wollten sich das von einem Außenstehenden bestätigen lassen, und dann doch wieder nicht.

Aber es ist schwierig, die Grenzverleger und die „Republikaner“, trotz des historischen Reflexes und der dazugehörenden Übelkeit, die sie hervorrufen, gefährlicher zu finden als man sie findet. Was das betrifft, fand ich einen Satz in der 'FAZ‘ (in einem übrigens anderen Zusammenhang) ganz schön: „Die Geschichte scheut es, sich zu wiederholen.“ Doch da waren meine Gesprächspartner meistens nicht meiner Meinung. Es muß komisch sein, vor den eigenen Landsleuten Angst zu haben, aber hier ist das nicht ungewöhnlich.

Was zuweilen dazukommt, ist eine plötzliche Verehrung der DDR, als hätte da „trotz allem“ eine Art Utopie stattgefunden, wo die Dinge „dann zwar nicht in Ordnung waren, das Leben aber „gewissermaßen“ einfacher, menschlicher gewesen sei, nicht durch Habgier, Materialismus, das Protzertum in der Bundesrepublik verdorben. Aus dieser Sicht sind diejenigen, die die DDR einem vereinten Deutschland ausliefern wollen, natürlich Verräter. Nur, die Leute, die das sagen, befanden sich meistens immer schon in der Bundesrepublik, und was sie in ihrer scheinheiligen Argumentation nicht kapieren, ist, was die anderen in den vergangenen Jahrzehnten für ihre verkrachte Utopie bezahlen mußten.

Wortwitze, immer leidig, vor allem, wenn die Natur sich damit beschäftigt, aber es regnet in Regensburg. Hier ist es noch behaglich und eigensinnig alt. Ich betrachte die Wasserspeier am Dom, langgestreckte Monster, die das Regenwasser wie Sabber aus ihren Mäulern rinnen lassen, sehe die Steine der römischen Festungstürme und in einer versteckten Ecke des Doms - wie hervortretende Eingeweide die unbebauten Reste einer früheren uralten Kirche, ungleichmäßige, riesenhafte Steine, die vom Teufel hochgehievt wurden.

Und auch auf den Tellern liegen noch Gerichte, die der Rest von Europa schon vergessen hat, Flußwels aus der Donau, gebratene Herzen und geschmorte Lungen. Essen kann auch ein ökologisches Prinzip sein: Ich werde nie begreifen, warum derselbe vorwärtsstrebende Konservative, der sein Leben für den Erhalt des zwölfzehigen sächsischen Ringwurmadlers geben würde, sich inzwischen von einem gewissen MacDonald die Lungen von seinem Teller hast wegessen lassen. Das Höhere läßt sich nun mal nicht so leicht erobern

In einer Buchhandlung sehe ich etwas, was dem griechischen Tempel von Segesta, einem mächtigen Bau an einer verlassenen Küste Siziliens, ähnelt. Hier steht er zwischen nördlichem Grün, hoch über der Donau, und heißt Walhalla. Eine Zeitlang traue ich meinen Augen nicht, dann aber möchte ich sofort hin, und Fred Strohmaier, der Besitzer der Atlantis -Buchhandlung, bietet an, mich hinzufahren. Walhalla, Atlantis, es hört sofort zu regnen auf.

Das letzte Stück muß zu Fuß gegangen und geklettert werden, das Höhere läßt sich nun mal nicht so leicht erobern. In der Ferne glänzt das nun tiefliegende Land mit den Türmen Regensburgs, der Fluß liegt da wie eine breite Bahn geplätteten Eisens, durch die kahlen Bäume glänzt der Marmor des Königstraums, schon wieder einer. Der König und sein Architekt - so etwas muß auch Hitler gedacht haben, wenn er sich des Nachts mit Speer über den Zeichentisch beugte nach der Glyptothek in München ist dies das zweite Bauwerk der beiden, das ich in dieser Woche besuche.

Es war im Jahr 1807, und der König war noch kein König. Sein Vater hatte sich in der Rheinbundpolitik auf die Seite des Kaisers Napoleon gestellt, der Kaiser hatte Preußen erobert und toste wie ein Peitschenhieb über Europa, vier Könige und dreißig Fürsten mußten ihm in Erfurt huldigen demselben Erfurt in der DDR, wo Willy Brandt im Jahr 1970 Willi Stoph begegnet war und so den ersten öffentlichen Stein für seinen „Wandel durch Annäherung“ gelegt hatte, die Ostpolitik, deren Folgen viel weitreichender sind als jeder damals glauben konnte, und auch dasselbe Erfurt, in das der alte Visionär diese Woche zurückkommen durfte, um vor seiner alten, neuen, alten Partei zu sprechen. Deutsche Einheit, die schimmerte auch durch die Träume des bayerischen Prinzen.

Groß mußte der deutsche Tempel sein, „nicht nur kolossal im Raum - Größe muß in der Bauart sein, hohe Erhabenheit, verbunden mit Pracht...“ Und wer, da es an Göttern mangelte, sollte in Walhalla wohnen? „Walhallas Genosse werden kann, wer teutscher Zunge sey... rümlich ausgzeichneten Teutschen...“, und so begegne ich, als ich in diesen hohen Schauer hineingehe, einer edlen Gesellschaft versteinerter Gesichter, einem ausgezehrten Kant, einem jugendlichen, etwas aufgeblähten Goethe, der aussieht wie ein Filmproduzent mit Doppelkinn und Gorgonenhaaren. Reihenweise stehen die weißen Büsten in dem hohen, hellen Raum Klenzes und starren mit blinden Augen auf die umherschlurfenden Nachkommen.

Der königliche Gründer hatte mein armes Land in Gedanken schon annektiert, denn in der Gesellschaft von Bach und Leibnitz, Mozart und Paracelsus, erinnerter Feldherren und vergessener Kurfürsten treffe ich Boerhaave, Willem von Oranien, Hugo de Groot, Maarten Harpertszoon Tromp. Ganz oben irren die Helden und Heiligen ohne Gesichter umher, ihre Erinnerung besteht ausschießlich aus Buchstaben: Eginhard, Horsa, Marbod, Hengist, Teutelinde und Ulfila, ich kenne sie nicht, kann mir aber die prächtigste Musik aus Bayreuth dabei vorstellen.

Es gab keinen Platz für Menschenmassen und somit auch keinen für einen dramatischen Auftritt

Der König selbst sitzt so locker da, wie es die Geschmeidigkeit des Marmors zuläßt, mit Lorbeer bekränzt, die nackten Füße in Sandalen, die Toga lässig übergeworfen, ein römischer Senator, von geflügelten Löwen flankiert. Lola Montez und die Revolution von 1848 zwangen ihn, den Thron aufzugeben, doch seine Walhalla stand. Draußen führen 358 Marmorstufen hinunter, aber es ist leicht zu sehen, warum Hitler die Walhalla nicht mochte: Es gab keinen Platz für Menschenmassen und somit auch keinen für einen dramatischen Auftritt. In diesem marmornen Beinhaus mußte man sein, wenn man alles schon getan hatte, nicht, wenn man es noch tun mußte, dafür war diese Bühne nichts.

Das nahm er selbst ganz anders in Angriff. Vor langer Zeit habe ich mal die Filme der Reichsparteitage in Nürnberg gesehen, schwarzweiße, von der Zeit schon angesengte atavistische Rituale, ich brauche sie nicht mehr zu beschreiben, sie gehören endgültig der ewigen Erschütterung an. Und natürlich mußte ich, wenn ich nun schon in diesem Teil der Welt bin, dorthin, und natürlich habe ich nun, da ich davorstehe, die größte Mühe, mir irgend etwas vorzustellen. Die anderen sind nicht da, so ein Gefühl.

Leere Tribünen, und der Volkstribun hat sich aufgelöst, ist fort. Nur sein Bild ist noch vorhanden, wenn man es wachruft, und die Erinnerung an seine Stimme. Diese eine Stimme, die brüllte, die einen Namen hatte, und all die anderen namenlosen Stimmen, die zurückbrüllten, ein antiker Chor, der zu wenig Text bekommen hatte. Ich bin schon alt, ich kann es noch hören, es kam aus bakelitenen Radios, dieses Geräusch, es wurde von den Erwachsenen abgestellt, klang dann aber irgendwo anders noch, ein Rufen, das abebbte und wieder anschwoll, eine orgiastische Rhetorik.

Man verstand es nicht, weil man ein Kind war, aber Unheil war damit verbunden und auch Aufregung. Nichts ist mehr da, an diesem Regentag. Ich bin allein, die anderen sind tot oder alt. Eine Viertelmillion Menschen konnte hier zusammenkommen, eine Kathedrale aus Licht wurde um sie herumgebaut, dann waren sie vereint, das machte sie glücklicher. Fahnen, zwölf Mann starke Kohorten, Banner, ein Kult zur Beschwörung des Schicksals, ich kann diese leere Fläche wieder ankleiden, die rissigen, baufälligen, verdreckten Tribünen mit den Schemen von damals bevölkern und gemeinsam mit den anderen auf die Ankunft dieses Einen warten, dieser bis ins letzte inszenierte Augenblick, die Ejakulation, der Weltriese, der kommt. Mein Volk besteht aus meiner Geliebten und zwei

Lastwagenfahrern

Nichts ist davon übriggeblieben, nur der Ort selbst, der die Abwesenheit demonstrieren soll, es ist ein armseliger Genius loci, der hier umhergeht. Ich klettere über einen kaputten Zaun und gehe die Stufen hinauf, auf denen sie saßen oder standen. Bierdosen, aufgeweichte 'Bild'-Zeitungen wie Klumpen Rotz und Blut, ineinandergelaufener Farbdruck. Der Walter Mitty, der in mir haust, steigt unaufhaltsam zur Tribüne hinauf, zu der verfallenen Bronzetür, in die jemand Nero eingeritzt hat, und dann wieder ein paar Treppen hinunter zu der kleinen Rostra, wo er dann stand. Mein Volk besteht aus meiner Geliebten und zwei Lastwagenfahrern, die dabei sind, einen Anhänger loszukoppeln. Sie werkeln auf dem nassen Asphalt und vergessen, auf mich zu achten. Sonst nichts, graue Wolken, kahle Bäume, die Bankgeheimnisse der Seele, Erfindungen.

Ich gehe wieder ins Zentrum zurück, ins echte Mittelalter, genese von der Geschichte in einer älteren Geschichte, die Kirchen liegen mitten in der Stadt, als wären sie einst auf einem Meer gefahren, das nun verschwunden ist, sie sind in einer Welt gestrandet, die ihre Bilder nicht mehr lesen kann. Wer weiß noch, wer die Frauengestalten in den Portalen der Frauenkirche sind? Die nach innen geschlagene Frömmigkeit dieser Gesichter sondert sie von der sie umringenden Welt ab, das Geschrei der Marktleute hören sie schon jahrhundertelang nicht mehr, sie haben Gesichter wie wir, tun aber etwas anderes damit, entfernt und in sich versunken wie weibliche Buddhas, so haben sie den Lärm der Zeit an sich vorüberziehen lassen.

Frauenkirche, Sebalduskirche, Lorenzkirche, immer wieder dieser hochgeworfene gotische Raum, der meine Gedanken zu den Kreuzbögen hinaufzieht, zu den Zwickeln, den Gewölberippen, den Schlußsteinen, zu all dem Höheren, an das mein Körper nicht rankommen kann, weil er nach Newton untenbleiben muß. Und an den Säulen, unter den Bögen, auf den Fenstern, in den Nischen das versteinerte Volk der Plastiken, das neben uns her lebt, uns nicht hört oder sieht, gebrandmarkte Evangelisten in Tiergestalten, auf ihrem Grabstein ausruhende Bischöfe, das Panoptikum aus Märtyrertod und Judaskuß, aus Fabeltieren und gekrönten Häuptern, Henkern und geflügelten Menschen, eine Sprache, die in sich selbst spricht, weil fast niemand mehr zuhört.

Ich frage mich, in welcher Glyptothek diese Plastiken einmal landen werden, und noch am selben Nachmittag bekomme ich Antwort von den Heiligenfiguren und Grabsteinen im Germanischen Museum. Hilflos stehen sie da, ihrem Kontext entfremdet, ungültig geworden, Kunst. Aber dann bin ich auch wieder da angelangt, womit dieser Tag angefangen hat, denn im Museum wird eine Ausstellung über „entartete Musik“ gezeigt. Ich sehe zu, wie sie das Böse in der Welt betrachten, das

schaurige Unrecht

Zweimal an einem Tag will mein Kopf diesen Schwenk nicht machen, ich merke, daß er sich weigert, doch der Ernst der Schulkinder und Studenten um mich herum bewegt mich zum Bleiben, und ich sehe zu, wie sie das Böse in der Welt betrachten, das schaurige Unrecht. Dies ist nicht etwas, das geteilt wird: Dies betrachtet, liest, verarbeitet jeder für sich, und es geschieht in großer Stille, so wie ich lesen sie den verächtlichen Brief von Wagner an Meyerbeer, in dem er sich ihm als Sklave anbietet, und später, als er ihn nicht mehr braucht, die genauso verächtlichen antisemitischen Äußerungen über denselben Meyerbeer und Mendelssohn in Das Judentum in der Musik, die ewig mit seinem Namen stinken werden.

Nein, das ist nicht lustig. Die Fotos von Schönberg und Adorno, Weill und Eisler, die grausamen Karikaturen, die paranoiden Vorschriften, die ganze sumpfige Zwangswelt dieses geschlossenen Gedankens, der dachte, vernichten zu müssen, um überleben zu können. Nichts ist davon üriggeblieben, nur Leid, Tod, Leere, Teilung, und auch hier wieder diese Vitrinen, vor denen man steht, um es zu begreifen und es dann doch nicht begreift. Warum ist das Böse soviel schwerer zu fassen als das Gute? Warum kann der Strauss der Vier letzten Lieder neben Hitler stehen, warum sind die Noten Wagners nicht sofort giftig und falsch geworden, als er diesen verbohrten Unsinn aufschrieb? Ich weiß es nicht, und das Mädchen neben mir vor der Vitrine auch nicht, das sehe ich an ihrem Rücken.

An den Rokoko-Servicen, Reifröcken, Harnischen und Puppenhäusern habe ich kein Interesse mehr, ich fahre nach Bamberg, übernachte in einem Hotel am schnellströmenden Fluß, lausche den Glocken in der Nacht, gehe durch den Regen und die Stille, sehe die Kohls und Modrows im Fernsehen und weiß, daß ich wieder in die vielgeforderte Gegenwart zurück muß, grüße morgens den Bamberger Reiter, einen ernsten jungen Mann, der umnachtet ins zwanzigste Jahrhundert blickt, und mache mich auf den Weg in die DDR.

Von Bamberg nach Weimar kann man die Landstraße nehmen, Coburg ist der letzte große Ort vor der Grenze. Ich habe mich erkundigt, ob das auch für mich gilt, und nach Meinung des ADAC ist dem so, kaum komme ich dort aber an, haben die Grenzer es schwer mit der Kombination eines niederländischen Passes und Berliner Einwohnerschaft. Sie blättern immer wieder in dem Papier, spähen von mir auf mein Verbrecherfoto, fragen mich nichts, sondern diskutieren lange miteinander. Ganz kurz hat es den Anschein, als seien die alten Zeiten zurückgekehrt, aber dann darf ich passieren.

Danach wird alles anders, und alles ist wahr. Jetzt fahre ich zum ersten Mal nicht über die Autobahn, sondern durch das Land selbst, und es ist, als fiele ein Dunst Traurigkeit auf das Auto, fast so, als wäre eine andere Scheibe eingesetzt worden, wodurch die Welt fahler, verfallener wird. Gilt das denn auch für die Bäume, großer Reisender? Nein, das gilt nicht für die Bäume, und doch, lieber Freund, haben die Straßen und Bäume, die Häuser und Bäume etwas, wodurch diese Bäume ein wenig von ihrem unvergänglichen Selbst preisgeben und die Farbe ihrer Umgebung annehmen. Auch im Wald? Nein, nicht im Wald. Schnee, nasser Schnee, Aussichten, Schönheit, Häuser aus Schiefergestein, wenig Verkehr, Eisfeld, Saalfeld, Rudolfstadt, Kahle, Industrien, schändlicher Rauch, abgeblätterte Frabe, Krähen auf den Feldern, eine farblose Welt. Es ist Winter, sage ich mir, setz die Sonne darauf und alles wird anders. Und in ein paar Monaten sind die Bäume wieder grün. Hier aber wohnen Menschen, die nicht einmal mehr die paar Monate warten wollen.

Übersetzung: Rosemarie Still

Cees Nooteboom, holländischer Schriftsteller, geboren 1933, zur Zeit Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin-West. Von ihm liegen auf deutsch im Suhrkamp -Verlag drei Romane vor: „In den niederländischen Bergen“, „Ein Lied von Schein und Sein“, „Rituale“.