Mein ist die Rache, spricht die Frau

■ Bei den Familienfehden in Unteritalien spielen Frauen oft eine entscheidende Rolle / Ein Überrest des Matriarchats?

Werner Raith

Du muß dich mit dem Arm am Fensterrahmen einklemmen“, sagt Giuseppe, genannt Pinu, und versucht, durch blitzschnelles Herumreißen des Steuers, gleich drei Schlaglöcher auf einmal zu vermeiden, „sonst haust du dir den Kopf an der Decke blutig. So:“ Er lüftet seine abgeschabte Ballonmütze und zeigt die Spuren solcher Zwischenfälle. „Bis auf den einen Querschmiß neben dem Ohr“, erläutert er die Spuren auf seiner Halbglatze, „kommt das alles von da oben.“ Den Beulenrückständen am Kopf entsprechen wohl ebensoviele Dellen am Deckenblech des Fiat-Kleinbusses.

Die beiden alten Frauen im Schwarz der Witwen auf den Plätzen hinter mir schaffen das Aussitzen der Wagenhüpfer besser, jedenfalls ist kein Laut der Klage von ihnen zu vernehmen. „Den seitlichen Stich da“, kommt Pinu auf seine Narben zurück, „hat mir der Sohn unseres Nachbarn versetzt, als ich noch klein war; wir sind seit Generationen verfeindet.“ Er sagt das, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Die beiden Frauen seufzen kurz auf, aber das klingt nicht bedauernd, eher wie eine Bestätigung, daß solche Feindschaften zum Alltag gehören.

Der Wagen vollführt weitere Kapriolen, obwohl die Straße jetzt glatt ist, und ich vermute... „Ja, ja, ich weiß“, kommt Giuseppe meiner Frage zuvor, „mein Wagen hat auch einen Achsbruch. Aber das muß sein.“ Das muß sein? „Ja, das muß sein. Bei uns heißt es: 'U capriule co‘ rutula buna f‘ mal‘ ai puv'ri murti'“ - ein Wagen mit intakten Rädern ist schlecht für die Verblichenen. Die beiden Frauen hinter mir brummen bestätigend. Der Spruch ist also kein Witz.

Der Wagen, mit dem mich Pinu abgeholt hat, ist, wie sich herausstellt, nicht zufällig schwarz lackiert: Er dient auch als Leichenwagen. Bis zu seiner Pensionierung war Pinu Polizist, und „irgendwann hab‘ ich die Kiste hier abgestaubt, mit der sie vorher Ermordete in die Gerichtsmedizin geschafft haben.“

Der Satz von den guten Rädern, die dem Toten nachteilig sein sollen, erzählt Pinu, stammt aus dem vorigen Jahrhundert: Da brach bei einem Totenkarren ein Rad, das Gefährt stürzte um, der Sarg barst - und der tags zuvor von der Polizei Erschossene hüpfte auf die Beine und entschwand. Obwohl sich das Wunder seither nicht wiederholt hat, hält sich hartnäckig die Hoffnung, daß dereinst wieder mal ein Umgebrachter durch Wagengewackle ins Leben zurückkehrt.

Pinu hat die Holzkreuze an den Seitenwänden des Leichenwagens abmontierbar gemacht und fährt so auch Gemüse oder Ersatzteile aus, manchmal bis nach Perruzzano, Scrisa, Casignana in den unzugänglichen Bergen des 2.000 Meter hohen Aspromonte-Massivs ganz im Süden Italiens, in Gegenden, in die sich andere nicht hineintrauen - aus Angst vor abrutschenden Straßen und vor den Schrotflinten mißtrauischer Hirten. Doch in den letzten Jahren braucht er sich auch über Mangel an Aufträgen in seinem Haupttätigkeitsbereich nicht zu beklagen, den Leichentransport: „Der Tod hat hier Hochkonjunktur“, schreibt die 'Gazzetta del sud‘, „und zwar weit über die allgemeine Kranken- und Alterssterblichkeit hinaus.“

Seit 1985 haben sich die Morde in Kalabrien, einer Region etwa von der Größe Schleswig-Holsteins mit knapp zwei Millionen Einwohnern, mehr als verdreifacht - auf mittlerweile über 300 im Jahr. Allein in Africo, am östlichen Aspromonte, wo Pinu herstammt, hat die Fehde zweier miteinander verwandter Familien seit 1987 mehr als 40 Todesopfer gefordert, einmal sechs innerhalb von nur 20 Stunden. In Vibo Valentina, auf der tyrrhenischen Seite Kalabriens, sind einem einzigen Anschlag vier Personen zum Opfer gefallen, in Crotone starben 1989 zwanzig Menschen durch Clankämpfe.

In Gioia Tauro wurde ein Clan für schuldig befunden, mehr als 50 Leute ermordet zu haben. Das Familienoberhaupt wurde zu dreimal „lebenslänglich“ verurteilt. Doch die Zahl der Bluttaten erhöhte sich auch danach weiter. „Der Staat hat die Kontrolle über Kalabrien verloren“, lamentierte Mitte 1989 ausgerechnet der für öffentliche Ordnung zuständige Innenminister Antonio Gava - und dabei beließ er es, einige wirkungslose öffentliche Auftritte ausgenommen.

Nach Polizeiangaben tobt in Kalabrien ein erbarmungsloser Krieg um die „Kontrolle des Territoriums“: In Gioia Tauro geht es um staatliche Großaufträge für einen Hafen; Auftragsvolumen: mehrere hundert Millionen DM. In Crotone wird um Grundstücke gekämpft, auf denen aus Spanien verbannte Nato-Bomber stationiert werden sollen, in Africo Nuovo macht man sich gegenseitig den Zugang zum 1951 abgerutschten Africo Vecchio hoch oben in den Bergen streitig, weil von da aus alle Bewegungen des östlichen Aspromonte kontrolliert werden können: Dort vermuten Ermittler die Verstecke für ein halbes Dutzend Leute, die aus Norditalien entführt wurden, außerdem zahlreiche Waffen und Drogendepots.

Auch die mittlerweile engen Beziehungen örtlicher Familien zur sizilianischen Mafia und zur neapolitanischen Camorra sollen in die lokalen Kriege hineinspielen. „Doch ganz so einfach ist das auch wieder nicht, da wirken noch ganz andere Mechanismen mit, von denen selbst viele Italiener keine Ahnung haben“, erklärt mir Pinu, während wir in seinem schwarzen Wagen über die Straße nach Africo Nuovo rumpeln. Und gerade er muß es wissen - nicht nur, weil er aus der Gegend stammt, sondern auch, weil „der Leichenfahrer der einzige Mensch ist, der von den Hinterbliebenen mehr erfährt als selbst der Beichtvater“.

Das mag stimmen: Als er den beiden Frauen in Trauerkleidung am Bahnhof höflich von außen die Autotür öffnet, um sie aussteigen zu lassen, halten die ihn noch mehr als eine halbe Stunde am Ärmel fest und reden ununterbrochen auf ihn ein. Meine Anwesenheit während der Fahrt hat sie offenbar gestört. „Frauen“, sagt Pinu, als er schließlich wieder zu mir in den von der Sonne glühend aufgeheizten „Furgonetto“ einsteigt, „Frauen lassen sich hier in den Dörfern des Aspromonte fast nie auf der Straße blicken: Was sie brauchen, haben sie im Haus oder draußen im Garten, Gemüse, Obst. Viele mahlen noch selbst das Mehl, bereiten die Spaghetti mit dem alten Sieb zu, und wenn's mal Hammel oder Lamm geben soll, wird natürlich zu Hause geschlachtet. Lediglich zu Hochzeiten und Taufen kommen sie mal raus und, wie die beiden da, zu Beerdigungen.“ Dann allerdings „können sie gar nicht so krank sein, daß sie da nicht mitgehen würden. Besonders die Alten und die ganz Alten. Ich rede nur von den Frauen. Die Männer bleiben lieber zu Hause oder draußen vor der Kirche oder vor dem Friedhof, speziell wenn es sich um einen Mord handelt. Die Frauen nicht, die gehen in jedem Fall hin.“

Natürlich brennt mir die Frage auf der Zunge, warum gerade die Frauen so eifrig dabei sind, wenn jemand zu Grabe getragen wird. Doch meine Bekannten aus Spezzano Albanese, deren Verwandte ich hier besuchen möchte, hatten mir eingeschärft, zumindest anfangs keinerlei Fragen zu stellen. „Wenn die auch nur ahnen, daß du sie ausfragen willst, machen die dicht, und dann ist es ein für alle mal aus“, hatte Annamaria gesagt, die aus dieser Gegend stammt und der ich die Einladung verdanke.

Daß ich im tiefsten Aspromonte ohne großes Aufsehen eine alteingesessene Familie besuchen kann, versteht sich keineswegs von selbst: Niemand kommt ohne besonderen Grund in diese völlig abgelegene, unwirtliche Gegend. Jeder Fremdling wird äußerst mißtrauisch beäugt: So kam Annamaria auf die Idee, bei den Nachbarn ihrer Eltern anzurufen - sie selbst haben kein Telefon - und mich als Freund zu empfehlen, der ihr nach einem Unfall geholfen hat: „Dann bist du dem ganzen Dorf willkommen.“

Annamaria gehört zu den wenigen Frauen aus den Bergdörfern, die eine Art Absprung geschafft haben: Im gut 80 Kilometer entfernten Spezzano hat sie einen „Albanese“ geheiratet. Er ist Nachkomme der Albaner, die im 16. Jahrhundert vor den Türken geflohen sind, von den Königen Unteritaliens im rauhen Kalabrien Bergkämme als Wohnorte zugewiesen bekamen. Auch heute noch sprechen sie neben Italienisch eine eigene Sprache und pflegen ihre Traditionen.

In diesen Gemeinschaften - es gibt fast 70 „Albaner„-Dörfer in Unteritalien - bewegen sich die Frauen seit eh und je viel freier als bei den „genuinen“ Kalabresen, viele von ihnen haben im Ausland gearbeitet, führen nach ihrer Rückkehr eigene Geschäfte, mischen sogar in der Politik mit. Nur weil Annamaria sich mittlerweile zu diesen Frauen zählt, war sie auch bereit, mir den Zutritt zu ihrer Familie im tiefen Süden zu verschaffen. „Mir geht's dabei nicht nur darum“, sagte sie beim Abschied, „daß du den x-ten Artikel über Rückständigkeit und Frauenleid schreibst: Schau dich um, und du wirst sehen, daß viel von den Übeln dort auch von den Frauen selbst weitergetragen wird.“

Zum Beispiel das Mißtrauen gegen Fremde: Kaum steige ich in einem der Dörfer, durch die wir kommen, einen Augenblick aus, um mir die Füße zu vertreten, holen scharfe Frauenstimmen hinter geschlossenen Fensterläden die Kinder von der Straße. „Die wittern in jedem, den sie nicht kennen, einen Gangster“, sagt Pinu, „und die meisten, die hierher kommen, bringen auch kein Glück.“ Vor zwei Wochen hatte der Bürgermeister von San Luca, nur wenige Kilometer entfernt, im Fernsehen erklärt, daß „wir die Fremden, den Staat, die Gesellschaft von außerhalb des Aspromonte fast nur in Form von Polizeiposten, Razzien oder Steuerfahndungen kennenlernen“.

Der Anlaß, aus dem die Presse auf San Luca aufmerksam wurde, war in der Tat wieder einmal makaber: Carabinieri hatten in Oberitalien vier Männer aus San Luca bei einem Entführungsversuch gestellt - und alle vier erschossen. Daß „die Schuld an der Ballerei, selbst wenn es sich dabei um Banditen gehandelt hat, ausschließlich bei denen lag, glaubt aber hier im Aspromonte keiner“, sagt Giuseppe.

„Ihr hättet sie festnehmen können“, schrie die Schwester von einem der vier Erschossenen einen TV-Reporter an, „aber ihr mußtet sie ja ermorden!“ Daß die vier weniger in eine Falle getappt sind als vielmehr dorthin gelockt wurden und daß sie darüber zu keiner Aussage mehr imstande sein sollten - dieser Verdacht wird wohl nicht mehr zu entkräften sein. Die Mütter der vier Toten schrien beim Begräbnis nicht nur ihr Leid heraus: Das Wort „Vendetta“ war es, das erst leise, dann immer deutlicher ertönte - und es kam ausschließlich aus dem Munde der Frauen.

Diese Feststellung war für mich der Grund für diese Reise: Mein Versuch, durch die Lektüre von Veröffentlichungen über den Süden herauszufinden, ob nur in diesem einen Falle ausschließlich die Frauen nach Rache riefen, während die Männer eher besonnen vom „Frieden“ redeten, vom „Schlußstrich, den man unter die Mordserien setzen muß“, oder ob es sich dabei um ein grundlegendes Phänomen handelte, war gescheitert. Ich mußte feststellen, daß es weder in der sozialwissenschaftlichen noch in der kriminologischen Literatur brauchbare Hinweise dazu gibt.

Pino Arlacchi, Italiens anerkanntester Mafia-Forscher und selber Kalabrese, sieht in dieser merkwürdigen Vorrangstellung der sonst so zurückgezogenen Frauen das Ergebnis einer „enorm komplizierten kulturhistorischen Entwicklung„; doch daß „die Erscheinung bisher allzuwenig erforscht ist“, erstaunt auch ihn seit einiger Zeit, „gerade angesichts der sonstigen Flut von Analysen zum Thema Mezzogiorno, dem italienischen Süden“.

Die erste Unterhaltung mit Annamarias Eltern wird nicht nur durch die gelungene Einführung als Retter in der Not erleichtert, sondern auch durch die Entdeckung, daß wir einen gemeinsamen Bekannten haben: Ein in Wien lebender Geschäftsmann aus dem Dorf von Annamarias Großmutter, Donna Fiametta, hat vor Jahren mit mir an einer ORF -Fernsehdiskussion teilgenommen.

„Anständige Leute“, sagt Teresa, Annamarias Mutter, vom Küchenherd aus, „leider ist jetzt die ganze Familie ausgewandert.“ Das wundert mich - der Mann sprach so begeistert von seinem Dorf... „la faida“, sagt Fiametta nur, „la faida“ - „die Fehde“. Alle schweigen. Annamarias Anweisungen folgend, traue ich mich nicht, Fragen zu stellen.

Offenbar ist die Familie meines Bekannten mit einer anderen Familie in eine Fehde geraten, und die Eltern Annamarias wollen dazu nicht Stellung nehmen; zumindest nicht mir gegenüber. Nach einer beklemmenden Pause sagt Vater Giovanni: „Brutta storia“, schlimme Sache. Schweigen. Fiametta: „Purtroppo“, leider; doch auch hier schwingt kein Bedauern mit.

Es ist ziemlich schwierig, mit diesen Pausen umzugehen: Redet man hinein, zerreißt man vielleicht den dünnen Faden, der gerade zum Thema führen könnte; sagt man nichts, erweckt man vielleicht ebenfalls den Eindruck, mehr hören zu wollen. So bewegt sich die Unterhaltung eine ganze Weile auf der Ebene von Gesten: Achselzucken, das ein „was willste machen“ ausdrückt, Kopfnicken, Seufzen, wieder hochgezogene Schultern.

Vater Giovanni hebt kurz an: „Wie soll man da rauskommen?“ Doch ein scharfes „Wo rauskommen?“ seiner Frau erstickt abrupt jedes weitere Wort. Ich beschließe nun doch, einen Vorstoß zu machen - es kann nicht mehr als schiefgehen. Ob sie Bambino in fuga gesehen hätten, frage ich, das sei doch ganz in der Nähe gedreht worden; ein Fernsehfilm über einen kalabresischen Jungen, der den Fehdemord an seinem Vater miterlebt hat, mit seiner Mutter fliehen will, doch immer wieder von den Händeln der beiden verfeindeten Familien eingeholt wird. Schließlich verliert er auch noch den älteren Bruder in der Fehde, bis er, nun selbst zur Rache entschlossen, einen aus den USA heimkehrenden, aber der „Vendetta“ abschwörenden Sprößling der anderen Familie findet, mit dessen Hilfe er dem Blutrachespuk eine Ende setzt.

Eine Geschichte, die sich so abspielen könnte? „Wäre schön“, sagt Giovanni, und wieder zischelt seine Frau aus dem Hintergrund: „Und die Toten, die es vorher gegeben hat?“ Giovanni wirft mir einen Blick zu, der schreckliches Unbehagen ausdrückt - ungewiß, ob wegen des Themas oder weil er von seiner Frau zur Ordnung gerufen wurde. „Aber Rache bringt doch wieder nur weiteres Leid“, suche ich den Unmut der Frau auf mich zu lenken. Sie dreht sich einen Augenblick um, schaut mir ungewöhnlich gerade ins Gesicht: „E tu che capisci del dolore di una madre?“ Was verstehst du vom Schmerz einer Mutter?

Ihr Mann hebt die Schultern, schnaubt etwas, sagt dann: „Jaja, was verstehst du schon davon.“ Aber das „du“ steht offenbar nicht für mich, sondern für „man“. Erneutes Schulterzucken, dann eine hilflose Geste mit der Hand, seine Augen schließen sich ganz fest dabei. Er akzeptiert die Worte seiner Frau, aber er zeigt auch, daß er sie nicht fühlt, diese Worte. Sie bleiben im Raum stehen, unheimlich wohl auch für ihn.

Teresa teilt Spaghetti aus; sie sind, man sieht es, handgemacht, das Gemüse für die kalabresische Soße Auberginen, Knoblauch, Paprika, Tomaten - aus dem Garten, genau, wie Pinu es beschrieben hat. Das Essen vergeht mit Gesprächen über Arbeitslosigkeit und Wassermangel im Süden Italiens, die Lage der Bauern und über die Frage, ob die Menschen im Norden überhaupt noch in die Kirche gehen. Dann kommt Mutter Teresa unvermittelt wieder auf das Thema zurück: „Ich verstehe nicht viel von der Welt, aber wie schaffen es eure Mütter, den Mörder ihres Sohnes und dessen Familie, die dieses Monster geboren hat, nicht bis zu deren Vernichtung zu hassen?“

Ich wende ein, der Haß auf den Mörder sei eine Sache, aber eine ganz andere sei die Blutrache, die Ermordung eines Bruders, eines Vetters oder des Großvaters des Mörders - ich kann mich dabei wieder auf den Film Bambino in fuga beziehen, um meine Neugier als reine Fernsehfrucht auszugeben. Da greift unvermittelt Vater Giovanni ein: „Da hängt vieles miteinander zusammen. Das wirst du nicht verstehen, wenn dir schon der Schmerz einer Mutter nicht zugänglich ist.“ Das Gespräch reißt ab, eine Antwort auf meine Frage erhalte ich nicht.

Doch am späten Nachmittag ergibt sich unvermittelt eine neue Gelegenheit: Cataldo kommt vom Feld zurück, der Bruder von Annamaria, der zwei Jahre in der Schweiz gelebt hat und seit fünf Jahren die Übernahme des kleinen elterlichen Anwesens vorbereitet. Er sieht aus wie Mitte fünfzig, ist aber, wie ich später erfahre, erst Anfang vierzig. Die Männer altern hier noch schneller als die Frauen.

Er will auf seinem Maisfeld noch kurz nach dem Rechten sehen, und nimmt mich mit. Wie ich denn so mit seinen Eltern zurechtkomme, fragt er mich im Gehen. Obwohl seine Familie sehr zurückgezogen lebt, scheint er Kummer mit Besuchern gewohnt zu sein: „Meine Eltern sind nie über die nächsten zwei oder drei Dörfer hinausgekommen“, sagt er. „Für die war sogar Fernsehen lange Zeit eine Art Sünde. Sie sind wie 95 Prozent der Leute hier; wer sich nicht an die Regeln hält, ist aus der Dorfgemeinschaft schnell draußen.“

Der Vater, erfahre ich zu meinem Erstaunen, hat vier Jahre Gefängnis hinter sich, wegen einer Messerstecherei - schwer vorstellbar angesichts seiner fast unterwürfigen Ruhe zu Hause. „Ruhig bleibt er nur bei ganz bestimmten Themen“, sagt Cataldo, „und du hast eines davon berührt. Wir Männer haben Beklemmungen beim Gedanken an die Vendetta. Alle.“ Die Feststellung ist so bestimmt, daß ich für eine Weile keine Möglichkeit sehe, das Gespräch über dieses Thema fortzusetzen.

Schweigend gehen wir nebeneinander her. Unser Weg führt jetzt durch einen Wald aus uralten Eßkastanien- und Affenbrotbäumen. Manche haben meterdicke Stämme. Dazwischen liegen riesige Wurzelballen von umgestürzten Bäumen. Caraldo scheint nicht auf eine Gelegenheit zu warten, das Gespräch wieder aufzunehmen. Er sinnt vor sich hin, kickt ab und zu einen Stein vom Weg, reißt einen Zweig ab. Schweigen, nicht eben meine Stärke, zahlt sich aus, hat Annamaria mir gesagt; ich versuche es, so gut es geht.

Dann nimmt Cataldo das Gespräch plötzlich wieder auf genau an der Stelle, an der wir es abgebrochen hatten und über die ich die ganze Zeit nachgedacht habe: „Es würde gar nichts nützen, wenn ich mich dem entziehen würde. Der Druck hier in der Familie, bei den Freunden, im Dorf und in der ganzen Provinz wäre zu groß. Selbst wenn es mir nichts ausmachte, als Feigling zu gelten - und du kannst bestimmt nicht ermessen, was es bedeutet, hier als Feigling zu gelten: Es ist nicht nur der seelische, es ist auch der finanzielle Ruin, keiner gibt dir mehr Kredit, keiner kauft dir mehr was ab - selbst wenn mich das kalt ließe, es würde nichts nützen - dann müßte der nächste aus der Familie ran, und einer würde es am Ende in jedem Falle tun; spätestens mein Vater.

Er könnte es sonst in der Familie nicht mehr aushalten.“ Pinu, den ich am nächsten Tag zufällig treffe und darauf anspreche, meint, daß „neben der Armut auch die Flucht vor der Pflicht zur Rache bei vielen Männern ein wichtiges Motiv für die Auswanderung in den sechziger und siebziger Jahren war - obwohl es den meisten nicht viel genützt hat, seit man sie mit dem Selbstwähltelefon schnell erreichen und zurückbeordern kann“.

Sind es also nur die Frauen, die auf der Fortsetzung dieser furchtbaren Tradition der Selbstjustiz bestehen? Mafiaforscher Arlacchi meint, daß die im Haus jeweils angesehenste Frau - meist die älteste - eine Art „Hüterin der Familienehre“ sei; diese Autorität gründe sich auf das Mysterium der weiblichen Fruchtbarkeit und verleihe der ältesten Frau die alleinige Gewalt im Bereich der moralischen Erziehung: „Ein Überbleibsel des Matriarchats, anachronistisch geworden, weil die einst sozialregulativen Funktionen des Familienzusammenhalts, der kollektiven Verteidigung, der Abschottung gegen Eindringlinge längst zerstört sind.“ Oder vielleicht doch nicht? Cataldo wiederholt das bekannte Argument: „Solange wir hier den Staat nur nach Bluttaten kennenlernen und dieser wahllos verhaftet, statt die Schuldigen zu suchen - übrigens eine Form der kollektiven Vendetta -; solange wir Politiker nur sehen, wenn sie unsere Stimmen für Wahlen kaufen wollen; solange sie uns die Täler austrocknen, indem sie unsere Flüsse stauen und ableiten für ihre, nicht unsere Industrie

-solange werden die alten Verhaltensmuster praktiziert, werden die Menschen hier weiterhin lieber Selbstjustiz betreiben, als sich unzuverlässigen Polizisten, verständnislosen Richtern oder gar der dummen Presse anzuvertrauen.“ Ich komme noch einmal auf das Hauptproblem zurück: Strafe, wie auch immer, für den Täter, ist die eine Sache; aber Töten einer unbeteiligten Person, eines Vetters oder Onkels: Welchen Sinn hat das? Cataldo hebt sich die Frage auf - und wirft sie beim Abendessen vor der gesamten Familie auf.

Die Mutter, die Großmutter, der Vater, seine ältere Schwester Rosa, auch deren beide Kinder, ein Junge von elf, ein Mädchen von acht Jahren, sind dabei. Und wieder greift die Mutter das Wort: „Grazia a dio“, sagt sie, „daß es uns nicht passiert ist, von uns haben sie niemanden umgebracht, bisher. Doch wenn sie es tun - denkst du, den Täter so einfach zu töten ist eine ausreichende Strafe für ihn? Dann ist er tot, er wird nicht einmal mehr bereuen.“

Cataldo nickt mir zu - er bemerkt den Verdacht in meinen Augen: Man tötet nicht den Täter, sondern seinen Bruder, seinen Sohn, seinen Vater, um ihm dasselbe Leid zuzufügen, das er vorher der Familie des Ermordeten zugefügt hat. Der Vendetta-Tote als Vehikel zur Peinigung des Täters; kein Gedanke an das neue Opfer.

Dieses Ritual wird auch heute noch in vielen Gegenden durch eine bestimmte Handlung der ältesten Angehörigen eines Ermordeten überhöht: Sie muß dem Leichnam einige Tropfen Blut absaugen und dem zur Blutrache ausersehenen Mitglied ihrer Familie in den Mund laufen lassen.

In Sizilien - wo die meisten Morde kaum mehr mit den einstigen Familienfehden, sondern mit dem Kampf um Marktanteile zusammenhängen - führt die Angst vor diesem immer wieder praktizierten antiken Blutschwur nach der Erkenntnis der Antimafiakommision seit Jahren dazu, daß Clans ihre Feinde sozusagen „rückstandslos“ beseitigen, eingemauert in Beton oder ins Meer versenkt: So kann die Familienoberin diesen Schwur zumindest nicht mehr durch das öffentliche Blutritual vollziehen.

Cataldo bemerkt, daß ich nach wie vor dem Gedanken an die Rolle der Frauen nachhänge: „Das stimmt für unsere Gegend ganz sicher“, sagt er, „aber die Vendetta ist nicht unbedingt typisch weiblich. Sie hat eher mit der Rolle der Frauen hier zu tun. Das Eingezwängtsein der Frauen in die vier Wände, ihre Angst vor dem, was von darußen auf sie zukommt und dem sie wehrlos ausgesetzt sind.“

In dem Film Bambino in fuga löst sich diese zu immer neuen Bluttaten führende Angst der Familienältesten erst, als sie hört, daß „der Same unserer Feinde ausgerottet ist“, sprich, auch der letzte männliche Nachkomme ermordet wurde. „Doch Vorsicht“, sagt Cataldo, „das ist nicht unbedingt frauenspezifisch: Denk nur an die Sendung über die Linksterroristen.“

Tatsächlich hatten in mehreren vor kurzem übertragenen Interviews Ex-Kombattenten der „Prima linea“ viele ihrer Attentate der siebziger Jahre mit „Vendetta“ begründet nicht alle, aber doch erstaunlich viele -, und es waren keineswegs nur Frauen, die dieses Gefühl als Erklärung anführten: War einer ihrer Genossen oder Genossinnen bei einem Feuergefecht mit den Carabinieri umgekommen, so planten sie sogleich die Rache - nicht am Täter, nicht einmal an einem Mitglied der Einsatztruppe, sondern an „den“ Carabinieri schlechthin.

Der Politologie-Professor Giuseppe De Lutiis, der seit Jahren die Biographien von Mitgliedern des „Bewaffneten Kampfes“ recherchiert, bemerkte, daß „fast alle, zumindest nachträglich, den Gedanken an die 'kollektive‘ Bestrafung der anderen Seite mit der Hilflosigkeit begründen, die sie angesichts dieser riesigen anonymen Gruppe von 'Feinden‘ empfanden. Sie hätten sich außerstande gesehen, eine gezielte, ausgewogene, 'gerechte‘ Selbstjustiz direkt gegen den Täter auszuüben.“ Diese Bluträcher kamen nicht aus dem „tiefen Süden“, sondern waren aufgeklärte Zeitgenossen aus den modernen Industriestädten des Nordens, aus Turin, Mailand, Trient.

Vor meiner Abreise, auf dem Weg zum Bahnhof von Africo Nuovo, versuche ich noch einmal, im Gespräch mit Pinu, auf das Thema zurückzukommen. Er lacht, unsicher, etwas abwehrend, auf keinen Fall vergnügt: „Ich weiß nichts über die Terroristen, kann nur über uns hier etwas sagen. Frauen und Blutrache: Sag mir doch, was sollen sie anderes denken? Sie sehen den Tod des Sohnes - und du weißt, wie unsere Frauen ihre Söhne vergöttern - als eine Art eigenes Versagen an. Sie haben nicht vermocht, ihn zu schützen. Die totale Rache soll ihm, noch im Tode, zeigen, daß die Mutter gegen alle Vorschriften der von ihr sonst so beachteten Religion zum Gang in die Hölle bereit ist, um ihm Genugtuung zu verschaffen. Sie fühlen sich schwach, die Frauen bei uns, weil sie so unerfahren, so fern jeder Emanzipation sind; und weil sie sich schwach fühlen, setzen sie ihre letzte Energie daran, wenigstens die Stärke ihrer Familie zu zeigen.“

Und nach einer Weile spinnt er den Gedanken zu Ende: „Vielleicht war es bei den Terroristen genauso: Sie fühlten den Tod des Genossen als eigenes Versagen und wollten gerade mit der Ungerechtigkeit der reinen Vendetta ihre Bereitschaft zeigen, sogar ihre eigenen Prinzipien von Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verraten, nur um zu zeigen, wie sehr sie ihn eigentlich hatten schützen wollen.“