Auf dem Weg zu einer anderen Republik

■ Die Koalitionsvereinbarung der neuen DDR-Regierung enthält eine Menge Zündstoff / Von Walter Süß

Einen Koalitionsvertrag zu veröffentlichen ist ungewöhnlich. Die neue DDR-Regierung deckt damit ihre Karten für die Verhandlungen über einen Staatsvertrag mit der BRD auf, die am kommenden Donnerstag beginnen sollen. Ihre Bonner Verhandlungspartner werden über viele Punkte in diesem Dokument nicht glücklich sein, denn neben einigen konservativen Grundpositionen (wie der Beitritt zum Grundgesetz nach Art. 23 GG und die Nato-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland) enthält es eine Menge sozialdemokratisch- reformerischer Vorhaben, von der Umwandlung des „Volkseigentums“ in „Volksaktien“ bis hin zu radikaler Abrüstung.

Betrachtet man die übertriebene Geheimnistuerei der letzten Wochen, so kann die Veröffentlichung der „Koalitionsvereinbarung“ schwerlich aus innerer Verpflichtung zur Transparenz geschehen sein. Tatsächlich geht es wohl vor allem darum, den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern etwas von ihrer Zukunftsangst zu nehmen. Zudem soll die frustrierte SPD-Basis stabilisiert werden. Richard Schröder, der SPD-Fraktionsvorsitzende, hat dieses Anliegen in dem Appell zusammengefaßt, all jene SPD-Mitglieder, die aus Protest gegen eine Koalition mit der DSU aus der Partei jetzt austreten wollen, sollten sich doch, bitte schön, erst einmal die Koalitionsvereinbarung durchlesen.

In der Tat enthält das 50seitige Papier eine Menge sozialdemokratischer Vorhaben. Man hat den Eindruck - das bestätigen auch Verhandlungsteilnehmer -, daß die Allianz sich an einigen Grundpositionen wie dem Beitritt nach Art. 23 GG festgehalten, die Detailarbeit aber weitgehend den Sozialdemokraten und ihren Beratern überlassen hat. Das fügte sich mit der sozialdemokratischen Taktik, Strukturen eher durch kleine Schritte von innen her zu verändern als frontal gegen sie anzurennen. Die Konservativen mögen zudem gedacht haben, daß das, was sie jetzt der DDR-SPD zugestanden haben, von ihren Bonner Bruderparteien bei den Verhandlungen um den Staatsvertrag sowieso wieder vom Tisch gewischt werden wird. Deshalb ist es gerade für die Sozialdemokraten wichtig, daß dieses Papier jetzt - noch vor der Regierungserklärung - veröffentlicht worden ist.

Die „Koalitionsvereinbarung“ nennt als Ausgangspunkt ihrer Politik den 9. November, also den Tag der Grenzöffnung, die alle Reformvorhaben, die auf eine eigenständige DDR zielten, zunichte machte - und nicht etwa den 4. November, als die Berliner Demonstration der 500.000 dem Regime den letzten Stoß gab. Dieser Denkansatz ist die Voraussetzung dafür, daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Beitritt „auf der Grundlage des Art. 23 GG“ konzipiert wird. Art. 146 GG dagegen findet in der gesamten Vereinbarung keine Erwähnung.

Übergangsverfassung oder nicht?

Ob die DDR zuvor noch eine neue Verfassung erhalten soll, wird in der Vereinbarung offengelassen. Während in der Präambel diese Möglichkeit angesprochen wird, nennen die Ausführungsvereinbarungen nur „Übergangsregelungen“ als Ziel. Dabei sollten sowohl die DDR-Verfassung von 1949 als auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches „berücksichtigt“ werden. Das Grundgesetz haben die Autoren an dieser Stelle kurioserweise vergessen zu erwähnen. Über den Inhalt einer künftigen Verfassung wird wenig ausgesagt. Sie soll „die sozialen Sicherungsrechte als nicht einklagbare Individualrechte“ enthalten, dabei geht es vor allem um das „Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung“. Gefordert wird außerdem, durch die Verfassung den „Schutz der natürlichen Umwelt (...) zu gewährleisten“.

Weitere Regierungsvorhaben, die in der Verfassungsdebatte eine Rolle spielen werden, sind die Wiederherstellung der Länderstruktur und die Einrichtung einer Länderkammer, die Schaffung eines Verfassungsgerichtes, einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, von Arbeits- und Sozialgerichten und die freie Zulassung von Anwälten.

Daß die Wirtschafts- und Sozialordnung, die von der Koalition angestrebt wird, nach dem Bild der BRD entworfen sein würde, darüber bestand in den Verhandlungen kaum Dissens. Heftige Auseinandersetzungen aber löste die Frage aus, wie mit dem „Volkseigentum“ genannten Staatseigentum am Produktivvermögen zu verfahren sei. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiß. „Grundsätzlich“ soll das Volkseigentum „in Eigentum von Privaten“ überführt werden. Dazu sollen die Vermögenrechte am Produktivvermögen einer Treuhandgesellschaft übertragen werden, die den Charakter einer „Unternehmensbeteiligungsgesellschaft“ nach BRD-Muster trägt. Der Wert ihres Vermögens bestimmt sich dabei nach der Kursentwicklung auf dem Kapitalmarkt.

Die Treuhandstelle wird Anteilscheine und Aktien ausgeben. Alle Bürger, die vor dem 7. Oktober 1989 in der DDR lebten, können solche Anteilscheine erwerben. Die Bürgerrechtsorganisationen am Runden Tisch hatten gefordert, daß die Bürger „Volksaktien unentgeltlich erhalten, damit sie das von ihnen erwirtschaftete Vermögen nicht noch ein zweites Mal“ erwerben müßten. Die Koalition will statt dessen nach Beschäftigungsjahren gestaffelte Vorzugspreise einführen. Für jedes Beschäftigungsjahr gibt es einen Abschlag vom Nennwert um 2 Prozent. Im äußersten Fall kann ein DDR-Bürger solche Volksaktien um 80 Prozent verbilligt erwerben.

Bis zum 7.10.94 darf mit diesen Anteilscheinen nicht gehandelt werden. Wer die DDR vorher verläßt, muß sie zum Kaufpreis zurückgeben. Um ehemalige DDR-Bürger zur Rückkehr zu bewegen, wird auch ihnen die Möglichkeit eingeräumt, solche Anteilscheine - maximal um 70 Prozent verbilligt - zu erwerben. Sie müssen dann freilich ihren Wohnsitz wieder in die DDR verlagern.

Ein weiterer strittiger Punkt war, wie mit der enormen Verschuldung der DDR-Betriebe zu verfahren sei, die zu schwerwiegenden zusätzlichen Wettbewerbsnachteilen führt. Hier hat man sich offenbar auf keine generelle Lösung einigen können, denn die Vereinbarung enthält dazu nur die Aussage, anzustreben sei Streichung beziehunghsweise Umbewertung der Inlandverschuldung der VEB .

Innenpolitisch von Bedeutung ist nicht zuletzt auch die Absicht der Koalition, das unter der Regierung Modrow verabschiedete Gewerkschaftsgesetz wieder aufzuheben und es zu ersetzen „durch Regelungen in Verfassung und Vereinigungsgesetz“. Wie die Koalition mit dem in diesem Gesetz - und auch in der modifizierten DDR-Verfassung enthaltenen Aussperrungsverbot zu verfahren gedenkt, hat sie offengelassen.

Eins zu eins

Für die DDR-Bürger der kurzfristig wichtigste Punkt der Vereinbarung ist zweifellos die Ankündigung, für Sparguthaben genauso wie für Löhne und Renten einen Umtauschkurs von 1:1 anzustreben. Die Löhne sollen sogar vor der Umstellung noch um jenen Betrag erhöht werden, der künftig an Kaufkraft durch die Streichung der Subventionen verlorengeht. Andere Elemente der angestrebten „Sozialunion“ waren schon bekannt. Es handelt sich dabei im wesentlichen um die Übernahme des bundesdeutschen Sozialsystems von der Arbeitslosen- bis zur Rentenversicherung.

Eher brisant scheint der folgende Punkt: Grund und Boden sollen zwar im Prinzip frei verkäuflich sein, jedoch nur mit Einschränkungen: Personen, die nicht seit einem bestimmten Stichtag in der DDR wohnhaft sind, sollen in einer 10jährigen Übergangsphase nur Pachtverträge nach dem Erbbaurecht erwerben können. Zudem besteht für entsprechenden Boden zuvor eine „Anbietungspflicht an natürliche und juristische Personen aus der DDR“. Schließlich stehen solche Geschäfte unter dem „Genehmigungsvorbehalt der zuständigen Behörden“.