Böhme-Brief: Schelten Sie nicht unsere Menschen

■ Die taz dokumentiert hier den Brief, den der SPD-Gründer Ibrahim Böhme am 9.4. vom „unbekannten Ort“ aus an verschiedene West-Zeitungen, u.a. auch an die Westberliner Andresse der taz, schrieb, im Wortlaut

Eigentlich schreibt man eine solche Meinung an die Adresse der Politiker, der Wirtschafter, der Finanziers und all derer, die sich im Moment an Eifer übertreffen, wenn es darum geht, das magere Fuder, immerhin auf nicht selbst bebautem Grund geerntet, so in die Scheuer einzubringen, daß die altersschwache Deichsel nicht noch vor dem Scheunentor unter der Last des übergewichtigen Fuhrmanns bricht. Und dann gibt man diverse Duplikate den Medien, um auch die „Öffentlichkeit“ in den Stand der Aufmerksamkeit zu versetzen. Natürlich überlegt man vorher, welche Redaktionsstube welche Schlagzeile, wenn überhaupt eine zu finden ist, daraus fabriziert.

Ich habe keinen Grund, mich mit dieser Stellungnahme an einen Politiker der BRD zu wenden, die jetzt im deutsch -deutschen Einheitsgerangel in ihren tönenden Reden ihre Sprach- und Gedankenlosigkeit unter öffentlichen Beweis stellen. Sie haben nicht die Revolution gemacht, die den Menschen in der DDR soviel Hoffnung gab. Wollten sie überhaupt eine Revolution? Warteten sie nicht in den Präsidialbänken des Bundestages, die Nation ab und an mit abgestandenen Freiheitsreden langweilend, darauf, daß ihnen auf dem Obst- und Gemüsemarkt eine überreife Frucht zum Nulltarif nachgeworfen wird? Haben sie denn Herrn Schalck -Golodkowski nicht empfangen, wissend um seine menschenverachtenden Geschäfte? Brandt und Vollmer haben recht, wenn sie übereinstimmend sagen: „Die Menschen in der DDR haben die Revolution aus eigener Kraft in Szene gesetzt, friedlich und im Ringen um ihren Anstand und ihre Würde.“

Und dann kam mit gutem Recht auch der Anspruch auf den gesicherten Wohlstand und der Wunsch nach der deutschen Einheit im europäischen Kontext. Wenn selbst viele Väter und Mütter der Revolution ihre komplexe Verantwortung für die ärmeren Länder, für den Frieden und für die Menschenrechte im harten Wahlkampf nicht mehr für wahlopportun hielten, damit das wichtigste Kernstück ihrer Identität, entstanden in der Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegung vor der „Wende“, in grotesker Scham vorerst - hoffentlich nur vorerst - verstecken, so sind vor allem sie selbst schuld. Aber ihnen sei die Milderung des Vorwurfs zuteil, daß sie unter dem Druck jener Wahl-Dunkelmänner standen, die nicht nur mit Wagenladungen voll Bananen und Stonsdorfer, sondern mit unmoralischen und falschen Versprechungen einreisten.

Und voll Dankbarkeit denke ich an die ungezählten grünen und alternativen Politiker, die uns seit den endsiebziger Jahren mit Petra Kelly und Gerd Bastian bei unseren illegalen Friedensseminaren begleiteten, an Sozialdemokraten wie Gansel, Weißkirchen, Greinacher und Schmude, die immer Kontakt zu Menschenrechtsgruppen aufrecht erhielten, ohne uns zu belehren, an Humanisten wie Grass und Jens, die uns auf unser Gewissen verpflichteten, ohne den nationalistischen Zeigefinger zu erheben.

Nein, Stefan Heym und Christa Wolf hatten mit ihrer Fragestellung „entweder oder?“ nicht recht. Aber sie hatten den Mut zu einem unpopulären Wort, das erst jetzt in die Hirne der Menschen in der DDR dringt. Und ist das Bild vom Berg „Ida“ in Wolfs Kassandra nicht ein wenig auch die ästhetische Vorwegnahme unserer heutigen Situation?

Vor allem denke ich in diesen Tagen an jene Journalisten, Redakteure und Kommentatoren der westlichen Print- und elektronischen Medien, die sich schon vor der Wende (das Wort mag ich nicht so sehr, denn es erinnert mich an den Bundestag vom 1. 10. 1982) mit uns konspirativ trafen, um nicht nur sachlich zu berichten, sondern der Demokratie eine Schneise schlagen zu helfen. Sie haben uns in komplizierten Zeiten aufgerichtet und an sie wende ich mich mit der Bitte: Schelten Sie nicht unsere Menschen, wenn sie ein anderes Wahlergebnis erwarteten, denn die Bürger der DDR haben in einer freiwillig hohen Wahlbeteiligung nach diesen 40 Jahren einen mutigen Schritt in die Demokratie gewagt! (...)

Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben allen Grund, stolz zu sein auf sich und ihre Leistungen. Und sie haben in die deutsche Einheit einiges mit einzubringen, das auch die BRD in ihrem Solidargefüge und in ihrem Gemeinwesen bereichern wird. Die Menschen in der DDR sind mündig, und sie verdienen es, ernst genommen zu werden, zumal sie sich nicht unter „Lorbeer verstecken“ und mit „lächelnder Glätte“ bedecken, wo es eigene Schuld und Verantwortung aufzuarbeiten gilt.

Ibrahim M. Böhme