Das Ende der Mao-Dynastie

■ John Gittings im Londoner Guardian über die kommenden Monate in China

In diesen Wochen jähren sich eine ganze Reihe von wichtigen Ereignissen in China. Den Höhepunkt bildet natürlich der Jahrestag der schrecklichen Geschehnisse vom 3. und 4. Juni 1989 - der Nacht des Massakers auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Der erste dieser bedeutenden Tage war jedoch der 5.April: An diesem Tag des Jahres 1976 besetzten die Massen zum erstenmal den Tiananmen-Platz, um Deng Xiaoping gegen die Viererbande zu unterstützen.

Das Paradoxe der heutigen politischen Situation liegt darin, daß die ungewisse Zukunft des Deng-Regimes und seine grundlegenden Schwächen eher dazu beitragen, seine Gegner in der Tat von möglichen Aktionen abzuhalten. Angefangen von den Studenten bis hin zur Armee herrscht die verbreitete, vertraute Einstellung, wenn eine Dynastie sich ihrem Ende zuneigt, sei es besser, sich still zu verhalten und ruhig abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden.

Nirgends wird das Paradoxe dieser Situation deutlicher als in der Kommunistischen Partei selbst. Zhao Ziyang, der reformwillige Generalsekretär, der mit den Studenten sympathisierte und später beschuldigt wurde, er habe eine „Konterrevolution“ angezettelt, wurde zumindest bisher nicht der Prozeß gemacht. Er bleibt weiterhin Mitglied der Partei und des Nationalen Volkskongresses - und ganz im traditionellen Stil bat er diesen Monat darum, ihn von der Teilnahme an den Sitzungen dieser Versammlung zu befreien.

Auf der anderen Seite gibt es niemanden, der es wagte, sich öffentlich für die Reformer einzusetzen, solange die Parteiältesten noch in Amt und Würden sind. Wenn die Dynastie dem Ende ihrer Macht entgegengeht, schützen die integren Männer Unpäßlichkeit vor und warten darauf, daß der Kaiser stirbt.

Die Situation wird noch zusätzlich kompliziert durch die Tatsache, daß es nicht nur einen, sondern drei Kaiser in Peking gibt. Neben Deng ist das vor allem Chen Yun, der „pensionierte“ Parteiälteste, dessen Wirtschaftspolitik einer vorsichtigen, durch zentralistische Kontrollen im Zaume gehaltenen Reform sich jetzt durchgesetzt hat.

Der dritte im Bunde ist Präsident Yang Shangkun, dessen Klan der „Generäle der Familie Yang“ die Herrschaft über die Armee anstrebt. Entsprechend haben politisch bewußte Chinesen drei unterschiedliche Szenarien für die künftige Entwicklung parat, je nachdem welcher dieser drei Ältesten als erster stirbt.

Das Regime in Peking ähnelt in gewisser Weise einem Computer, der von einer allzugroßen Netzspannung überlastet wurde und nun seine Operationen auf das einfachste „Notprogramm“ reduziert hat. Die alten, vertrauten Slogans werden neu belebt: „Lernen von dem vorbildlichen Soldaten Lei Feng.“ Und: „Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein China.“

In der Bevölkerung Pekings fand dieser letzte Spruch seine ironische Umkehrung und lautet jetzt: „Ohne China gäbe es keine Kommunistische Partei.“

Premierminister Li Pengs Bericht vor dem Nationalen Volkskongreß hätte durchaus von einem Computer verfaßt sein können. Er sagte, das sozialistische China sei durch „eine Taufe durch Blut und Feuer“ hindurchgegangen. Es seien in der letzten Zeit große Erfolge erzielt worden auf den Gebieten „wirtschaftlicher Verbesserungen und Berichtigungen und der tiefgreifenden Reformen“. Aber der Klassenkampf gehe weiter und „könnte sich unter bestimmten Bedingungen noch weiter verschärfen“.

Dann erinnerte er die Delegierten daran, daß China eine „sozialistische geistige Zivilisation fördern“ müsse. So sollten die im kommenden September stattfindenden Asienspiele in Peking dazu benutzt werden, „energisch für eine Diplomatie von Volk zu Volk einzutreten und sie über China zu informieren“.

So ist es denn kein Wunder, wenn viele chinesische Beobachter immer noch davon ausgehen, daß Li Peng bei der zu erwartenden letzten großen Abrechnung wahrscheinlich als der große Verlierer dastehen dürfte.

Aber es war nicht etwa Dogmatismus, sondern echte Sorge, die Zhaos Nachfolger, den Generalsekretär Jiang Zemin, letzte Woche veranlaßte, vor dem zunehmenden Einfluß einer „bürgerlichen Liberalisierung“ in der Armee zu warnen. Der größte Teil der chinesischen Streitkräfte ist zutiefst unglücklich über das Massaker von Peking. „Die Soldaten, die mit Medaillen ausgezeichnet wurden“, meinte ein ehemaliger Offizier, „haben die Armee gebeten, diese Ehrung nicht in ihre Papiere einzutragen.“

Seit dem Juni letzten Jahres hat das Regime zwei Säuberungskampagnen in der Armee durchgeführt, befindet sich dabei jedoch in einem ernsten Dilemma: Wenn die Maßnahmen zu streng sind, dann werden die Kader auf diese Weise noch weiter von der Parteiführung entfremdet. Bleiben sie jedoch allzu milde, dann verliert die Führung an Glaubwürdigkeit.

Viele Chinesen sind überzeugt, daß die Armee nie wieder auf die Bevölkerung schießen würde - obwohl sie wahrscheinlich immer noch zögern würden, es darauf ankommen zu lassen. Sollte es zu einer erneuten Machtprobe kommen, dann würde die Armee wahrscheinlich eher in den politischen Entscheidungsprozeß an der Spitze der Regierung intervenieren. Die Partei hat also nicht mehr unbedingt die Kontrolle über die Gewehre.

Allerdings zeigen die Spannungen, die im letzten Jahr innerhalb der Armee aufgetreten sind, daß auch die Armee nicht mehr in sich geschlossen ist. Ein schneller, sauberer Coup wie der, mit dem damals die Viererbande beseitigt wurde, erscheint heute sehr viel unwahrscheinlicher und schwieriger.

Während zahlreiche Studenten in lähmende Resignation zurückgefallen sind, sind die städtischen Arbeiter, deren zunehmende Radikalisierung für das Regime im letzten Jahr Anlaß zu großer Sorge war, zu einem immer stärkeren und gefährlicherern Faktor geworden. Im letzten Winter wurden viele Fabrikarbeiter entlassen und später auf ihre Arbeitsplätze zurückberufen, wo sie für ihre Tätigkeit nur noch den Grundlohn ohne alle Prämien erhielten.

„Die Behörden wollten ganz einfach ein waches Auge auf sie haben“, erklärt ein Pekinger. „Aber jetzt sitzen die Leute einfach nur da, diskutieren die neuesten politischen Ereignisse und spielen Karten. Die Fabriken sind zu einer riesigen politischen Schule geworden.“ Darüber hinaus trägt auch die wirtschaftliche Rezession, die schon vor dem letzten Sommer einsetzte, mit den Folgen von zunehmenden Sparmaßnahmen und Unterbeschäftigung noch zusätzlich dazu bei, das ohnehin unruhige politische Klima in den Städten noch zu verschlechtern.

Auf dem Lande ist das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung zum erstenmal seit 1987 wieder gesunken. Außerdem wurde im Bausektor eine große Zahl von Saisonarbeitern gezwungen, in ihre Dörfer zurückzukehren, so daß heute mehr als fünfzig Millionen Arbeitskräfte beschäftigungslos im Lande umherirren.

Die Landbevölkerung Chinas verfolgt die Politik Pekings zwar nicht mit allzugroßer Aufmerksamkeit, aber sie spürt deutlich, daß im Zentrum der Macht irgend etwas schiefgelaufen sein muß.

Anhänger des „Bundes für eine demokratische Kraft“ - so nennt sich die heute aus dem ausländischen Exil operierende Demokratiebewegung - gehen davon aus, daß diese weitreichenden sozialen Verschiebungen in China kurzfristig zu einem gewaltsamen Umsturz führen werden. Es gibt allerdings mehrere Gründe, die dafür sprechen, daß die Situation in Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist.

-Das Beispiel Osteuropas und der Sowjetunion hat zwei Seiten. Der Erfolg der demokratischen Revolutionen in anderen sozialistischen Ländern hat zwar einige Chinesen ermutigt, andere jedoch resignieren lassen, weil sie sich eigenes Versagen vorwerfen.

-Die Isolation, in der sich die Hauptstadt im Vergleich zu vielen anderen, stärker nach außen orientierten chinesischen Provinzen im Westen und Süden des Landes befindet, hat paradoxerweise zur Folge, daß der politische Druck auf Peking gemildert wird. In den Künstenprovinzen wird heute eine modifizierte Form der Politik der offenen Tür praktiziert, während die Kader in den weiter im Inland liegenden Provinzen offen für Zhao Ziyan eintreten. Wenn sie nicht allzusehr unter Druck gesetzt werden, dann werden auch sie sich weiterhin ruhig verhalten und abwarten.

-Jiang Zemin und andere Politiker, die nach dem Massaker von Peking aus der Provinz in die Hauptstadt berufen wurden, dürften bemüht sein, für die Zeit nach dem Tode der Parteiältesten, vielleicht sogar schon vorher, eine geordnete Nachfolgeregelung zu treffen. Die am meisten verhaßten Personen - angefangen mit Li Peng - werden dabei zumindest „schwerer Fehler“ beschuldigt werden. Dabei werden sie sicherlich von vielen Chinesen, die nichts mehr fürchten als eine Rückkehr zu den chaotischen Verhältnissen der Kulturrevolution, in ihren Bemühungen um eine friedliche Übergangsregelung unterstützt werden.

Dennoch kann man sich nur schwer vorstellen, wie es ihnen gelingen könnte, das doppelte Handikap eines beinahe totalen Glaubwürdigkeitsverlustes der Partei und der chronischen, sich zunehmend verschärfenden wirtschaftlichen Probleme erfolgreich zu überwinden.

Treffender als die Vorstellung eines einzigen plötzlichen Funkens ist wahrscheinlich der Vergleich mit einem Schwelbrand unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche. Dieses Feuer, das immer wieder zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten auflodert, wird letzten Endes - wenn auch auf schmerzhafte Weise - die letzten Überreste der Mao -Dynastie verschlingen.

Übersetzung: Hans Harbort