Schwarzmarkt für Visa

Aus Chinas Universitäten und über die Hoffnungen seiner Jugend berichtet Simon Long  ■  Früher wußte ich nicht, wie fremdartig die Welt war

Früher hatte ich die Illusion, die Zukunft könne doch nicht genau wie die Gegenwart sein

Heute weiß ich, wie die Zukunft aussieht

Es ist nicht so, daß ich nicht verstünde

Es ist nur die Welt, die sich zu schnell bewegt

So lautet der Text eines Liedes von Cui Jian, Chinas Popstar und einer der Helden der Stundentenbewegung.

Wenn es für die Protestbewegung des letzten Jahres eine Partitur gegeben hätte, dann wäre sie von Cui Jian geschrieben worden, dessen Hits auf dem Tiananmen-Platz zu wahren Hymnen wurden. Seine Texte handeln nicht von Hoffnung und Revolution, sondern von Entfremdung und Verzweiflung. Sein berühmtester Song trägt den Titel Nichts außer meinem Namen.

Treffender als je zuvor beschreibt Cui Jian in seinen Songs heute die Stimmung unter der gebildeten städtischen Jugend einer Generation, die keinerlei Hoffnungen mehr hat.

Die überschäumende Begeisterung und trotzige Entschlossenheit der Protestbewegung des Pekinger Frühlings hat zumindest an den Universitäten einer neuen Stimmung von Zynismus, Apathie und Unmut Platz gemacht.

Die Anschlagtafeln an der Beida (der Universität von Peking), die im letzten Frühjahr voll waren mit Wandzeitungen, Karikaturen und politischem Klatsch, sind heute auffällig leer und sauber.

Hinter den gläsernen Tafeln hängen heute nur noch offizielle Bekanntmachungen, in denen die Studenten aufgefordert werden, an Seminaren über Lei Feng teilzunehmen.

Lei Feng war ein chinesischer Soldat, der 1962 starb und der - so der Mythos - bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Kommunistischen Partei zeigte und sein Leben auf vorbildliche, selbstlose Weise den durchgeschwitzten Socken, dem schmutzigen Geschirr und der moralischen Ermunterung seiner Kameraden widmete.

Jetzt wird dieser vermeintlich längst vergessene Lei-Feng -Kult wieder neu belebt und dient als eine Art moralisches Desinfektionsmittel, mit dem China von dem Ausbruch des Individualismus im letzten Jahr gesäubert werden soll.

Immer noch reagieren viele Studenten auf dem schönen, baumbestandenen Unigelände der Beida auffallend unsicher und nervös, wenn sich ihnen ein Ausländer nähert - besonders wenn es sich dabei um einen Journalisten handelt.

Viele Pekinger Bürger, die regelmäßige Kontakte mit Ausländern unterhalten, mußten offizielle Verhöre und Verwarnungen, wenn nicht sogar Schlimmeres, über sich ergehen lassen.

Nicht wenige jedoch sind auch jetzt noch bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Ihr heimliches Ziel ist dabei oft genug das, was der beinahe universelle Wunsch der besten und klügsten Köpfe Chinas zu sein scheint: China zu verlassen.

Die Lehrer berichten, daß die Studenten heute viel mehr faulenzen und sich eher für Mahjong, Glücksspiele und Alkohol interessieren als für ihre Studien. Die einzige Ausnahme sind die Englischkurse, in denen sie ganz bei der Sache sind. Im Mai findet die nächste Runde der Sprachprüfungen statt, die die Voraussetzung für die Aufnahme an einem amerikanischen College bilden.

Nach den neuesten Bestimmungen, die allerdings noch nicht öffentlich bekanntgemacht wurden, jagen alle diese Studenten nur noch einem Traum nach: In Zukunft müssen alle Universitätsabsolventen mindestens fünf Jahre in China arbeiten, um sich für einen Studienaufenthalt im Ausland qualifizieren zu können. Aber auch diese neue Hürde bedeutet für viele immer noch eine große Hoffnung in diesem System, in dem die meisten kaum Aussicht haben, durch akademische Leistung eine interessante Arbeit zu finden - ganz besonders die, die sich an den Protesten des letzten Jahres beteiligt haben.

Ein Hochschulabsolvent, der vier Jahre lang Englisch, Deutsch und Internationale Beziehungen studiert hat, arbeitet heute als Portier in einem der zahlreichen neuen internationalen Hotels in Peking, die jetzt fast halbleer sind. Dabei hätte es für ihn durchaus noch schlimmer kommen können, meint er: „Viele meiner Kommilitonen wurden aufs Land geschickt.“ Außerdem gefällt ihm seine neue Uniform.

Einen guten Job bekommt man, wenn überhaupt, nur über guanxi, also Beziehungen. Viele Chinesen glauben, das gelte auch für einen ausländischen Paß. So haben mich fast alle meiner chinesischen Bekannten entweder aus eigenem Antrieb oder im Auftrag eines Freundes oder einer Freundin irgendwann einmal gefragt, ob ich Kontakte zur Visumabteilung der britischen Botschaft hätte.

Auch ausländische Ehepartner sind jetzt zunehmend begehrt. „Westliche Frauen glauben an die freie Liebe, und die Ehe hat für sie keine große Bedeutung“, meinte einer, der mit allen Mitteln versuchen will, einen ausländischen Paß zu bekommen.

Dann fügt er erklärend hinzu: „Wissen Sie, es gilt immer noch als eine große Schande, wenn ein chinesischer Mann eine Ausländerin heiratet.“ Im Jargon vieler Studenten bezeichnet man einen ausländischen Freund oder eine ausländische Freundin ganz einfach als „Flugticket“.

Neulich fragte mich ein Taxifahrer, was ich von Italien halte. Er erzählte mir, daß er im nächsten Jahr dort studieren würde. Allerdings schien er nicht genau zu wissen, in welche Stadt er kommen und welchen Studiengang er einschlagen würde, ja nicht einmal, welche Sprache in Italien gesprochen wird.

In der letzten Zeit hat sich ein großer Schwarzmarkt für gefälschte Pässe und Visa entwickelt. Besonders italienische Visa sind offenbar überaus beliebt. Mit einem für teures Geld gefälschten italienischen Stempel in ihrem Paß gehen viele Auswanderungswillige dann zur polnischen oder tschechischen Botschaft, um ein Transitvisum zu beantragen. In den meisten Fälle werden sie jedoch entdeckt.

Vor dem australischen Konsulat in Schanghai und jetzt auch vor der australischen Botschaft in Peking ist es bereits zu Protestdemonstrationen von über 30.000 Bewerbern für Studienplätze in Australien gekommen.

Nach einer im letzten Sommer eingeführten neuen Regelung erfüllten die meisten dieser Bewerber plötzlich nicht mehr die Voraussetzungen für einen Studienplatz im Ausland - und das, nachdem sie ihren Job aufgegeben und bereits die Aufnahmegebühren bezahlt hatten - natürlich in Devisen, für die sie auf dem schwarzen Markt einen weit überhöhten Kurs bezahlen mußten. Allein seit Beginn dieses Jahres haben bereits weitere 30.000 Bewerber ein australisches Visum beantragt. Auch die kleine Botschaft Neuseelands erstickt unter einer Flut von rund 700 Visumanträgen pro Woche.

Es sind vor allem Studenten, die von einem Auslandsaufenthalt - vielleicht sogar für immer - träumen. Die chinesische Regierung jedoch, die weiterhin an ihrer Wirtschaftspolitik der „offenen Tür“ festhält, braucht diese qualifizierten Kräfte für die notwendige Modernisierungskampagen im eigenen Land.

An den Universitäten bekämpfen die Behörden das Problem der wachsenden Unzufriedenheit mit dem einzigen Mittel, das sie kennen: Alle nicht genehmigten politischen Aktivitäten werden rigoros unterdrückt, gleichzeitig wird die sogenannte ideologische Erziehung verstärkt.

So wurden die Studenten in diesem Semester eine Woche früher aus den Ferien zum chinesischen Neujahrsfest zurückgerufen, um an einer zusätzlichen politischen Schulung über die Entwicklungen in Osteuropa und in der Sowjetunion teilzunehmen.

Seit dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz machte sich der Unmut unter den Studenten zum erstenmal wieder zumindest andeutungsweise in dem Jubel Luft, der auf dem Campus ausbrach, als die Nachricht von der Hinrichtung Ceausescus im letzten Dezember bekannt wurde.

Die Entscheidung der sowjetischen KP im Februar dieses Jahres, auf ihre verfassungsmäßig festgelegte Führungsrolle zu verzichten, erschütterte das Selbstvertrauen der chinesischen Parteiführung noch zusätzlich.

In den Fabriken, in den Kasernen und besonders in den Hörsälen wird die chinesische Bevölkerung heute umfassend darüber aufgeklärt, warum Michail Gorbatschow den Sozialismus verraten hat und warum China keinesfalls das gleiche tun wird.

Selbst der ehemalige treue Verbündete Ceausescu wird heute als ein Tyrann denunziert, der sich gegen alle Reformversuche gesperrt und selbst die chinesischen Reformen kritisiert habe, während man Gorbatschow vorwirft, er versuche den Sozialismus zu untergraben.

Zusammen mit den osteuropäischen Staaten wird die Sowjetunion als deutlicher Beweis für die Macht des imperialistischen Komplotts der von John Foster Dulles in den fünfziger Jahren formulierten „friedlichen Evolution“ der sozialistischen Länder unter der „dritten Generation“ kommunistischer Führer bezeichnet.

Allerdings scheinen nur noch wenige Studenten Appetit auf diese Diät von Lei Feng und Gorbatschow-Schelte zu haben, die ihnen jetzt vorgesetzt wird. Sie sind vielleicht zu sehr eingeschüchtert und verängstigt, um wieder auf die Straße zu gehen, aber auch jetzt noch schlagen immer wieder Funken aus der Asche der Bewegung des letzten Jahres.

Vor kurzem gelang es einem flüchtigen Studenten, seine Geschichte in den ausländischen Medien zu veröffentlichen.

Er erzählte von einer weiterhin bestehenden, gegen die Regierung gerichteten Untergrundbewegung und berichtete durchaus glaubhaft von der breiten Unterstützung, die er in den letzten neun Monaten seiner Flucht vor der Schleppnetzfahndung des Staates von der Bevölkerung erfahren habe.

Die meisten Studenten haben zumindest von dem an mehreren Universitäten zirkulierenden Fax gehört, in dem zu einer friedlichen Versammlung, einer Art Spaziergangsdemonstration, auf dem Tiananmen-Platz aufgerufen wird, die zumindest theoretisch nicht gegen das Gesetz verstoße.

Dieser Aufruf, verfaßt in den alten Langzeichen (wie sie außerhalb der Volksrepublik noch weitgehend üblich sind), kam möglicherweise aus Taiwan, aber das spielt keine große Rolle, denn seine große Bedeutung liegt für die meisten darin, daß es sich hier um einen Testfall handelt, bei dem man vielleicht erkennen könne, wie die anderen - Nachbarn, Freund, Kommili tonen - denken.

Chinas einziger verbleibender Dissident, der noch unbehelligten Zugang zu den ausländischen Medien genießt, ist Hou Dejian, ebenfalls ein Popstar, der an den Hungerstreiks teilgenommen hat und dessen Status als Emigrant aus Taiwan ihm einen gewissen Schutz vor dem Zorn der Bevölkerung verleiht.

Hou ist überzeugt, daß die eigentliche Gefahr in China heute darin besteht, daß niemand so richtig weiß, was sich in den Köpfen anderer Chinesen abspielt; die Folge ist, daß „niemand abschätzen kann, was morgen geschehen wird“.

„Wenn wir genau wissen, daß eine Gefahr droht, dann können wir sie abwenden; aber wenn wir keine Ahnung haben, dann können wir auch nichts tun“, so lautet seine Einschätzung.

Übersetzung: Hans Harbort

„The Guardian“, London