Die Poesie des Pedigrees

Band XXII des Deutschen Traber-Gestüt-Buches erschienen  ■  WIR LASSEN LESEN

Zu den vielen unbemerkten Veröffentlichungen des vergangenen Bücherherbstes zählt ein dreibändiges Konvolut, das auf eine bald einhundertjährige Geschichte zurückgeht. Im Jahre 1896 wurde das erste Deutsche Traber-Gestüt-Buch veröffentlicht, dem nunmehr in seiner faszinierend enzyklopädischen Breite die 22ste Ausgabe hinzugefügt wurde. Das dreiteilige Buch besticht durch seine nüchterne Sprache wie durch seinen packenden Zugriff auf die Sache um „König Pferd“, Abteilung Traben. Ein knapp gehaltenes Vorwort führt kurz und prägnant in die Sache ein, nicht ohne auf den eigentlichen Autor hinzuweisen. In Fortführung des weitreichenden Gedankens von Friedrich Kittlers Aufschreibsysteme 1800-1900 heißt es da: „Der Umfang dieses neuen Bandes dokumentiert den Leistungsstand des HVT-Zentralcomputers, denn sämtliche Daten und Informationen sind über die EDV bereitgestellt worden; selbst der Drucksatz ist über den Zentralcomputer erstellt worden.“

Das sich selbst schreibende Buch verweist trotz der verwendeten Technik auf eine lebendige Geschichte des Trabrennsports der neuesten Zeit. Alle derzeit eingetragenen Pferde erscheinen vor dem Leserauge in ihrem kraft- und schönheitsstrotzendem Exterieur, gehen nicht zuletzt aber auch in die höheren Sphären der Imagination ein.

Es geht um Pferde, was sonst? Zum Beispiel erfahren wir, daß die fünfjährige Stute Evila aus der Eriane mit Ernesto Che einen Halbbruder von Nevele Impulse hat, während Andropow keineswegs russischer Herkunft ist, sondern von einem deutschen Skipper stammt. Dies alles ist unprätentiös zusammengeschrieben, im besten Sinne internationalistisch, denn als Inländer zählt schon, wer auf deutschem Boden geboren ist, auch wenn beide Elternteile Ausländer sind.

Das in seiner Luzidität einzigartige Gestüt-Buch gibt seine poetische Ausdruckskraft erst auf einen zweiten textverliebten Blick preis. So lesen sich die vielen Stammtafeln der Vaterpferde als wunderbare Exemplare konkreter Poesie, gegen die Peter Handkes Gedicht Aufstellung des 1. FC Nürnberg sich als reine Formation einer Fußballmannschaft, die übrigens kurz nach der Veröffentlichung des Gedichts aus der Bundesliga abgestiegen ist, darbietet.

Der weitaus größere Teil jedoch ist den Mutterstuten gewidmet, in deren zum Teil harten Arbeitsbedingungen man einen unverblümten Einblick gewinnt. In ihren 24 Lebensjahren mußte beispielsweise die schwarzbraune Stute Fabiola 19 Fohlen zur Welt bringen, die von sieben Vätern stammen. Züchter aller Länder, vereinigt Euch, möchte man hier laut dazwischenrufen, aber das Gestüt-Buch verzeichnet alles mit einer phänomenologischen Gelassenheit, bei der einem das Herz stockt.

Dieses Buch mit seinen über 2.000 Seiten plus Anhang ist nichts für zartbesaitete Gemüter. Wer aber in diese kryptische Formulierungskunst erst einmal Eingang gefunden hat, wird das sorgfältig mit Fadenbindung und Leinenumschlag ausgestattete Meisterwerk so schnell nicht mehr von seinem Nachttisch räumen. Einziger Nachteil des Buches ist die Tatsache, daß es noch nicht der neuen historischen Situation Rechnung trägt. Sämtliche DDR-Traber finden keine Erwähnung, obwohl sie auch nach den Statuten des HVT (Hauptverband für Traberzucht- und Rennen e.V.) als Inländer zu bezeichnen sind.

Gottlieb Haferkwiet

Deutsches Traber-Gestüt-Buch XXII, Kaarst 1989, 2.441 Seiten, 145 DM