„Die Unabhängigkeit Lettlands könnte die zwischennationalen Spannungen abbauen“

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Der XV. Kongreß der KP Lettlands endete vor zehn Tagen mit einer Spaltung der Partei: 264 von 791 Delegierten verließen den Saal, nachdem sie sich mit der Forderung nach einer moskauunabhängigen KP in einem souveränen Staat Lettland nicht durchsetzen konnten. Einer der Wegbereiter für diesen Schritt ist der 39jährige Redakteur des Wochenblatts 'Izglitiba‘ ('Erziehung‘), Vilis Seleckis. Der studierte Historiker hatte bereits Ende 1989 die Partei verlassen und in einem Anfang Februar veröffentlichten Aufruf dafür plädiert, die KP Lettlands solle ihre Tätigkeit einstellen. Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet Lettlands am 18. März gewann Seleckis mit über 83 Prozent der abgegebenen Stimmen einen Sitz für die Volksfront.

taz: Wurden mit den Wahlen in Lettland die Weichen für eine Entwicklung wie in Litauen gestellt?

Vilis Seleckis: Strenggenommen sind die Wahlen in Lettland noch nicht vorbei. Ende April muß in 17 Bezirken der gesamte Wahlvorgang wiederholt werden. Insgesamt kann man aber jetzt schon sagen, daß die Volksfront Lettlands einen Erfolg erzielen konnte, den wir nicht für möglich gehalten haben. Ausgewiesene Gegner der Volksfornt und der Unabhängigkeitsbestrebungen haben von den 172 Sitzen, die in der ersten Runde am 16. März vergeben wurden, nur etwa 40 erringen können, während die Volksfront 120 Mandate für sich verbuchen konnte. Gewiß haben wir die für die entscheidende Zweidrittelmehrheit notwendigen Mandate noch nicht beisammen, aber im Endergebnis wird diese Zahl wohl erreicht werden.

Werden die Abgeordneten der Volksfront den Weg ihrer litauischen Kollegen einschlagen?

Keine Frage, wir haben ja dasselbe Ziel. Das Beispiel Litauens verbietet es uns, einen anderen Weg einzuschlagen.

Zieht man in Betracht, daß die Litauer in ihrer Republik etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, die Letten entsprechend aber nur 52 Prozent - in welchem Tempo wird sich die Entwicklung in Lettland vollziehen?

Die Vorarbeiten für die erste Sitzung des neugewählten Obersten Sowjets Lettlands Anfang Mai haben bereits begonnen: Zunächst wird eine Unabhängigkeitserklärung verabschiedet. Wir wollen in Abstimmung mit Litauen und hoffentlich - Estland alle zur Erlangung einer realen politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit erforderlichen Schritte einleiten. Vermutlich werden wir nach der Unabhängigkeitserklärung andere Übergangsgesetze als Litauen beschließen. Es wäre offensichtlich unklug, Gesetze zu verabschieden, die, ohne einen besonderen politischen Nutzen zu erbringen, den Bären lediglich ärgern und ihn zu scharfen Reaktionen provozieren.

Was sind die unabdingbaren Elemente einer politischen Unabhängigkeit Lettlands?

Erstens müssen wir über unser Eigentum in Lettland bestimmen könnnen. Wir müssen in die Lage kommen, die Betriebe wieder in unsere Hände zu nehmen und unsere Volkswirtschaft zu organisieren. Zweitens müssen wir den Status eines völkerrechtlichen Subjekts wiedererlangen. Ferner brauchen wir offensichtlich einen eigenen Zoll, eigene Grenzen und auch eigene Sicherheitskräfte, die die Kontrolle über unser Territorium wahren, die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und die Grenze sichern. Es liegt aber auf der Hand, daß wir nie jenen Grad an Souveränität erreichen werden, den Großmächte für sich realisieren können. Wir werden wohl immer auf irgendeine Art und Weise von der UdSSR abhängig sein. Selbst wenn der von uns eingeschlagene Weg zur Souveränität zu einem sehr optimalen Ergebnis führt, werden uns die militärischen Stütztpunkte der Sowjetunion wohl noch lange erhalten bleiben.

Apropos ökonomische Unabhängigkeit - welche Überlebenschance hätte ein souveräner Staat Lettland auf dem Weltmarkt?

Das ist eine Kardinalfrage, mit der wir uns ständig auseinandersetzen müssen. Tatsächlich könnte ein oberflächlicher Blick den Eindruck vermitteln, Lettland sei ökonomisch nicht in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen: Es verfügt über keine Rohstoffe und Energiequellen. Ein Bruch mit der Sowjetunion, so die Argumentation der Kritiker, würde den wirtschaftlichen Zusammenbruch Lettlands nach sich ziehen. Dem halten wir entgegen, daß wir den Bruch mit der Sowjetunion nicht in Feindschaft vollziehen wollen. Wir gehen davon aus, daß die Sowjetunion auch dann an guten wirtschaftlichen Beziehungen mit uns interessiert sein wird, wenn wir ein unabhängiger Staat sind. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens werden im Baltikum viele Industriegüter hergestellt, auf die die UdSSR angewiesen ist. Die Litauer haben herausgefunden, daß es in ihrem Fall etwa 1.000 derartiger Produkte sind, ähnlich dürfte es in Estland und Litauen aussehen. Zweitens braucht die UdSSR unsere landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Drittens ist die Sowjetunion auf einen Zugang zur Ostsee angewiesen, auf unsere Häfen. Mithin könnte Lettland die Funktion eines Umschlagplatzes und Transitweges für Warenströme aus der und in die UdSSR ausüben. Mit anderen Worten: In einem vernüftigen Miteinander zwischen den beiden souveränen Staaten liegt für Lettland auch die Chance einer ökonomischen Selbständigkeit.

Vor deinem Austritt aus der Partei hast du für eine moskauunabhängige KP Lettlands plädiert. Welche Chancen könnte sich eine reformierte Partei unter diesen Bedingungen ausrechnen?

Bei den Wahlen in Lettland wurde offenkundig, was wir schon längst wußten: daß im Volke eine sehr starke antikommunistische Stimmung herrscht. Der Haß - ich zögere nicht, diesen Ausdruck zu gebrauchen - auf die KP ist gewaltig. Es ist allerdings eine ganz andere Frage, warum viele, sogar ausgesprochen progressive und kluge Leute vorläufig noch in der Partei bleiben. Sie gehen von der Überlegung aus, daß sie als Parteimitglieder den Umbruch fördern können, indem sie verhindern, daß die heutige KP Lettlands zu einer in sich geschlossenen, zentralistischen, antidemokratischen, gegen die Unabhängigkeit der Republik gerichteten Kraft wird. Zugleich gibt es noch einen zweiten Flügel der Partei. Dieser Flügel wird von der KPdSU unterstützt, die ihn als verlängerten Arm zur Durchsetzung von Moskauer Interessen in Lettland benutzt. Diese Gruppierung wird ihren Rückhalt unter den Massen der Nichtletten finden, die sie mit der Behauptung einzuschüchtern suchen wird, man werde sie aus einem unabhängigen Lettland verjagen oder ihnen zahlreiche andere Unannehmlichkeiten bereiten.

Nach den Wahlergebnissen vom 18. März zu urteilen, müssen etwa 30 Prozent der nichtlettischen Bevölkerung für die Volksfront gestimmt haben. Was erhoffen sich diese Wähler von solch einem Votum?

Offensichtlich verbindet sich für diesen Teil der nichtlettischen Bevölkerung die Unabhängigkeit der Republik mit der Hoffnung auf bessere materielle Lebensumstände, die durch einen Verbleib in der UdSSR nicht zu erreichen sind.

Kann man die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen in der nichtlettischen Bevölkerung als Anzeichen dafür deuten, daß sich in einem souveränen Lettland die Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen mindern würden?

Unter den nichtlettischen Einwohnern, die sich für die Unabhängigkeit Lettlands erklärt haben, lebt ein Teil schon seit Jahrzehnten und Generationen in Lettland. Diese Menschen betrachten sich als Bürger eines lettischen Staates. Unter den später Eingewanderten gibt es viele, die aus wirtschaftlichen Gründen hingezogen sind; ihnen dürfte es nicht schwerfallen, sich in einen Staat zu integrieren, in dem bessere materielle Lebensumstände als in ihrer eigentlichen Heimat herrschen. Sie hätten also auch ein unmittelbares praktisches Interesse daran, diesen Staat zu unterstützen. Ich bin ziemlich überzeugt davon, daß die nationalen Spannungen verschwinden würden, wenn wir dieses ganze gegenwärtige Chaos und all die Unsinnigkeiten in unserer Volkswirtschaft beseitigen und für die Bevölkerung eine normale Versorgung mit Wohnraum usw. sicherstellen könnten - aber dazu müssen wir zuerst unabhängig sein.

Gibt es in dieser Konkursmasse des sogenannten realen Sozialismus eigentlich etwas, das man trotz allem als Errungenschaft in die Zukunft hinüberretten sollte?

Ich kann mir nicht vorstellen, was es hier noch zu bewahren gibt, denn wir werden einen totalen Wandel des Systems erleben, und damit werden sich auch alle einzelnen Elemente dieses Systems ändern. Möglicherweie wird bei uns ein im Vergleich zu den kapitalistischen Staaten größerer staatlicher Sektor erhalten bleiben, aber im ganzen gesehen wird die Reprivatisierung sehr schnell vonstatten gehen und auch einige ziemlich große Betriebe erfassen.

Wäre denn das Recht auf Arbeit, nicht etwas Bewahrenswertes - weil der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft mit sozialen Erschütterungen verbunden sein wird?

Das Recht auf Arbeit ist in der Tat ein Prinip, das dem Sozialismus Attraktivität verliehen hat - aber nur als Prinzip, als Theorie. Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß das Ideal der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit sich in der Praxis des realen Sozialismus nicht verwirklicht hat.

Zweifelsohne wird der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft mit immensen sozialen Erschütterungen einhergehen. Ein erstes großes Problem: Mit der Wiedereinführung des Privateigentums werden die Ritter der sogenannten Schattenökonomie sofort ihre wirtschaftliche Macht ausspielen; Leute, die ihr Vermögen durch Diebstahl, Betrug, Spekulationen bis hin zu Mord erworben haben, werden dann ihr zusammengerafftes Kapital einzusetzen suchen.

Die Wahlen zur DDR-Volkskammer wurden überschattet von der möglichen Stasi-Vergangenheit prominenter Kandidaten und gewählter Abgeordneter. Steht die demokratische Entwicklung in Lettland vor einem ähnlichen Problem?

Ich glaube, daß wir in Lettland eine etwas andere, weniger verkniffene Einstellung zu diesem Problem haben. Zweifelsohne hat das Komitee für Staatssicherheit unserem Land in der Vergangenheit großen Schaden zugefügt, es war neben der Partei ein Hauptträger des Unrechtssystems. Gerüchte, daß immens populäre Persönlichkeiten der Volksfront Agenten der Staatssicherheit seien, sind in Lettland gang und gäbe - aber wer soll da noch durchblicken und dazu etwas Handfestes sagen können?

Interview: Ojars J. Rozitis