In der warmen Zugluft des Zeitgeistes

■ Ein von Prominenz besuchter Kongreß geht auf die Suche nach dem Geist der Zeit / Aus Lanzarote Petra Dubilski

Zeitgeist herrscht dort, wo die Zeit ihren Geist aufgegeben hat. Unbeirrt von diesem lästerlichen Spruch diskutieren diverse „Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur“ just jenes Thema in einem esoterischen Ferienzentrum der kanarischen Insel Lanzarote. Der Kongreß dauert noch bis 22.April an.

Das Wassermann-Zeitalter verlangt einem ganz schön viel ab: Man muß der komplizierten Technik gewachsen und immer mehr der globalen Vernetzung gewahr sein, altes Wissen ständig hinterfragen und dabei neue Informationen ins Weltbild integrieren. Man hat sich der Gefahr der ökologischen Katastrophe bewußt zu sein sowie der atomaren Bedrohung, soll liebgewordene Feindbilder, aber niemals Plastiktüten über Bord werfen, in ständiger Kommunikation stehen und auch noch alles begreifen. Und das Ganze mit Liebe im Herzen, auch wenn es Momente gibt, da man den Mordgelüsten aus dem Stammhirn allzu gern nachgeben möchte. „In der traditionellen Gesellschaft konnte man ungestraft ein Einfaltspinsel sein, in der modernen nicht“, bringt der Sozialwissenschaftler Joseph Huber die Komplexität der heutigen Zeit auf den Punkt. Doch manchmal hält das Neue Zeitalter auch ein Bonbon für streßgeplagte SchwimmerInnen im ganzheitlichen Strom bereit. Dann nämlich, wenn man über diese ganze komplizierte Welt auf der sonnigen kanarischen Insel Lanzarote diskutieren darf - Swimming-pool, Drink an der Bar und Fluchtweg an den Strand inklusive. Zeitgeist ist das Thema des Kongresses, den das esoterische Ferienzentrum Etora-Lanzarote vom 8. bis 22.April veranstaltet.

Und was der Zeitgeist uns zu sagen hat, woran wir uns in diesen Wirrnissen orientieren sollen, führen in Vortrag und Diskussion „Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur“ einem etwa fünfzigköpfigen Auditorium vor. Freilich haben im Vorfeld einige der angekündigten Referenten abgesagt - ein spirituelles Zentrum und ein Skandal um den Kongreßmoderator und Ex-RTL-Unterhalter Rainer Holbe (siehe Kasten) mag da hintergründig einige Berührungsängste auslöst haben. Nichtsdestotrotz, wer von den geladenen Gästen dennoch kam, hatte im positiven wie im negativen Sinn die volle Aufmerksamkeit der ZuhörerInnen.

Star der ersten Veranstaltungswoche war zweifellos Wolfgang Leonhard, Osteuropaexperte par excellence und Publizist (Die Revolution entläßt ihre Kinder). Bei seinem Thema ist die Frage nach dem beherrschenden Geist der Zeit allerdings auch kein Wunder: die Entwicklung in der Sowjetunion und die derzeitige Situation in der DDR. Aber macht das allein den Zeitgeist aus? „Zeitgeist besteht aus der Summe der Themen und Auffassungen in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort“, so Leonhard.

Die „Summe der Themen“ hat der Kongreß angeboten: Der Bochumer Sterngucker Heinz Kaminski sprach über die drohende Klimakatastrophe und die ökologische Verantwortung. Der Etora-Geschäftsführer und Astrologe Wolfgang Maiworm trug spirituelle Entwicklungsmöglichkeiten vor. Der Philosoph Ulrich Heinz, der sich Alchemist nennt und „intellektueller Chaot“ genannt wird, dozierte über individuelle Gesundung und seine Verehrung für die Intelligenz der Delphine, deren Aussterben unmittelbar bevorstehe. Aber der Tod ist ja nichts Schlimmes, wir werden alle wiedergeboren und haben die Chance, in weiteren Leben alte Schuld wiedergutzumachen, wie der Thorwald-Dethlefsen-Schüler und Reinkarnationstherapeut Klaus Meyer beruhigend mitteilte. In den kommenden Tagen darf man des weiteren gespannt sein auf Klaus Traubes Beitrag über „Energien der Zukunft“ und Franz Alts Referat „Liebe - Frieden ist möglich“. Als Francesco Altini hatte er am Ostersonntag bereits eine hinreißende Zauberershow geboten. Daß es zum Schluß auch noch einen Vortrag über weibliche Spiritualität geben wird, freut uns zeitgemäß dann doch alle. Denn etwa 80 Prozent der Zuhörerschaft besteht aus Frauen, während das Verhältnis bei den Vortragenden eher umgekehrt ist.

Sich über die „Summe der Themen“ zu verständigen, ist jedoch ein leichteres Unterfangen, als über die „Summe der Auffassungen“ einen Konsens zu erlangen. Denn da kann die leichte Brise des Zeitgeistes schnell zur Zugluft werden. Wie eine Gesellschaft auf veränderte und sich ständig verändernde Bedingungen reagiert, hängt nicht nur vom Selbstverständnis der Einzelnen und der Gesellschaft ab, sondern auch von Inhalt und Form der angebotenen Erklärungen und Lösungen. Widersprüche werden in einer Zeit der Desorientierung gerne übersehen, allzu einfache Lösungen dankbar übernommen.

Auch Kaminskis Vortrag über die Klimakatastrophe sprach Halbwissen und Ängste an, die für imperative Lösungsmuster empfänglich machen. Die Frage nach der Richtigkeit einer zerstörerischen Politik stellte er nicht - im Gegenteil, der einstige Mitbegründer der Grünen und spätere Dissident wies jegliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung von sich. Vielmehr setzte er die Dringlichkeit des Handels der Verbraucher - oder korrekter: der Verbraucherinnen - in den Mittelpunkt. „Gerade die Frauen sollten auf FCKW-haltige Haarsprays verzichten“, so sein durchaus richtiger, aber reichlich kurzgefaßter Appell an das anwesende Publikum, in dessen Reihen sich so manches ondulierte Haupt beschämt neigte. Immerhin erwägt Kaminski eine, wenn auch voraussichtlich vergebliche, Privatklage gegen die britische Premierministerin Margaret Thatcher wegen Umweltkriminalität bezüglich der Verschmutzung der Nordsee. Gegen die anderen Nordsee-Anrainer hegt er offenbar keine derartige Aversion.

Geht man von der Diskussion auf diesem Kongreß aus, scheint es überhaupt im Trend der Zeit zu liegen, den Frauen schlechthin für die Aufräumarbeiten einer kranken Welt die Verantwortung zu übertragen. Für Ulrich Heinz, in frommer Selbsteinschätzung jenseits von Gut und Böse, ist Zeitgeist kein Inhalt, sondern eine Methode, bestimmte Inhalte in Bezug zu setzen. Seine Methode ist dabei denkbar einfach: Um einen Menschen zu schaffen, der gesund an Körper und Geist sei, - sofern das überhaupt wünschenswert ist, da nicht er, sondern wohl die Delphine die Krone der Schöpfung sind -, sei es notwendig, die Mütter zu erziehen und zu schulen, ihre Körper zu entgiften und sie geistig auf die Kinderpflege vorzubereiten. Weder erwähnte er, daß sie blond und blauäugig zu sein haben, noch daß Väter eine gewisse Rolle spielen, wenn auch nur eine geringfügige. Daß einige Zuhörerinnen während seines Vortrages den Raum verließen, ist eine zutiefst beruhigende Seite des Zeitgeistes.

Ganz gespannt im Hier und Jetzt lauschte man dagegen den Worten von Wolfgang Leonhard. Er erzählte Zeitgeschichte und überließ geschickt die Meinungsbildung der Zuhörerschaft, was allerdings auch zu einigen Sumpfblüten führte. Sein Thema ist eng mit seiner eigenen Lebensgeschichte verknüpft: Er verbrachte etliche Jahre seiner Jugend in der Sowjetunion und wurde in der Komintern-Schule zum Revolutionär gedrillt, wandte sich jedoch Anfang der fünfziger Jahre vom stalinistischen Kommunismus ab. Daß er Gorbatschows größter Fan ist, nimmt da nicht wunder. „Auf die Reformen in der Sowjetunion und den Sturz des SED-Regimes in der DDR habe ich fast 40 Jahre gewartet“, aber der Wiedervereinigungstaumel ginge ihm jetzt zu schnell, gibt Leonhard nun doch Meinung von sich. Ein paar Jahre solle man den Menschen in der DDR Zeit lassen, sich an die neue Situation zu gewöhnen, auch wenn er den Wunsch nach Einheit als Demokrat respektiere.

Gewisse Vorbehalte gegen die Vereinigung beider Deutschlands schien es auch im Publikum zu geben. Weniger jedoch wegen des Ausverkaufs der DDR, sondern aus Angst um den eigenen Besitzstand („die klauen hier wie die Raben“, so eine Berliner Zuhörerin). Im Hinblick auf die DDR hat sich der Zeitgeist, so muß man vermuten, seit dem 9.November doch ziemlich gewandelt. Aber vielleicht ist der Zeitgeist doch nur alter Wein in neuen Schläuchen. Veränderungen und mithin der notwendige Bewußtseinswandel sind immer mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Das darf man getrost als Grundton der derzeit(geist)igen Strömungen annehmen, auch wenn schubartig immer wieder nach neuen Obertönen gesucht wird.

Wie aber definiert sich Zeitgeist heute, wenn viele reale und geistige Grenzen fallen? Ausgehend von diesem Kongreß scheint es wirklich neue, das heißt nicht partikulare, sondern ganzheitliche Orientierungen noch nicht zu geben. Allzu gern wird dann in die Mottenkiste alter und gelegentlich auch gefährlicher, weil ausgrenzender Ideologien gegriffen. Vielleicht müssen diese ollen Kammellen, die einem so schwer im Magen liegen, auch erst einmal ausgespuckt werden, damit sie verstanden und entsprechend entsorgt oder integriert werden können. „Erst wenn die Sättigungsgrenze erreicht ist, kannst du den Teller beiseite schieben“, sagt Karin Maiworm, Co-Managerin von Etora-Lanzarote. „Nur wer sich und die Welt versteht, kann beides auch verändern.“ Zeit wird's.