Litauer bieten dem Kreml die Stirn

■ Auch unter dem Druck der drohenden Wirtschaftsblockade will sich Litauen dem Diktat Moskaus nicht beugen

Die litauische Regierung ist nach dem am Freitag von Gorbatschow ausgesprochenen und seit gestern verstrichenen Ultimatum, nach dem die baltische Republik ihre Unabhängigkeitserklärung zurücknehmen soll, offenbar fest entschlossen, dem nun drohenden Wirtschaftsembargo Moskaus die Stirn zu bieten. In seinem Brief an die Regierung in Vilnius hatte Gorbatschow sich verärgert gezeigt über die Ausstellung von litauischen Personalausweisen und die Weigerung, weiterhin Soldaten für die Sowjetarmee zu stellen. Litauens Präsident Landsbergis lehnte ein Gespräch mit Gorbatschow bis nach Ostern ab. In der Zwischenzeit hat der Beraterstab von US-Präsident Bush bereits Optionen ausgearbeitet für den Fall, daß Moskau den Lieferstopp von Gas, Öl, Kohle, Maschinen, Baumwolle und chemischen Produkten tatsächlich verhängt. Lettland und Estland schlossen am Wochenende einen Vertrag mit Litauen, nach dem sich die baltischen Staaten im Ernstfall zur Seite stehen wollen. Litauens Rohstoffe reichen bis zum Ende des Monats.

Unerwartet kam das Ultimatum Gorbatschows und Ministerpräsident Ryschkows an die Adresse Litauens am Freitag abend sicherlich nicht. Der Nervenkrieg zwischen den beiden Seiten hatte seit der Erklärung Litauens vom 11.März, die Sowjetunion zu verlassen, stetig zugenommen. Und auch die Tonart, in der Medien und Politiker in Moskau über den Streitfall berichten, erinnerte an die alten, ein für allemal überholt geglaubten Zeiten.

Die Wahl des Zeitpunkts allerdings läßt aufhorchen. Das Ultimatum mit der Dauer von zwei Tagen hatte Litauen von vornherein nicht einhalten können. Denn anders als in der Russischen Föderation feiern die Litauer auch den Ostermontag. Es war somit ein bewußter Affront an die Litauische Adresse. Und Präsident Landsbergis antwortete noch am Samstag in gewohnt selbstsicherer Manier, das Parlament werde sich erst am Dienstag mit der Forderung aus Moskau befassen. Im übrigen werde sich die Republik trotz der Drohungen Moskaus, die lebenswichtigen Rohstofflieferungen entweder einzustellen oder nur noch gegen harte Devisen zu verkaufen, nicht von seinem Unabhängigkeitskurs abbringen lassen. Im Gegenteil, Landsbergis wertete Gorbatschows Ultimatum schon als eine vorweggenommene Anerkennung der Eigenstaatlichkeit. Schließlich wickele Moskau seinen Handel in Valuta nur mit souveränen Staaten ab, meinte Landsbergis.

Auf dem Spiel steht für Moskau mehr als nur der Verlust einer Republik. Sollte die Auseinandersetzung eskalieren, wäre auch das Schicksal der inneren Demokratisierung in der Sowjetunion besiegelt sowie längerfristig auch der mühselig in Gang gebrachte Entspannungsprozeß, den die Sowjetunion dringend braucht, um wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Das unterstreicht gerade die angelaufene Debatte, die Umstellung auf marktwirtschaftliche Mechanismen früher als geplant in Angriff zu nehmen. Dieses Szenario sieht auch Gorbatschow. Davon zeugen seine Appelle an die USA, das Erreichte nicht wegen Litauen aufs Spiel zu setzen. Noch mag er die Hoffnung hegen, die USA werden bei der „Befriedung“ im sowjetischen Hegemonialbereich keine Schritte unternehmen. Aber selbst wenn die USA stillhalten sollten, wäre bei einer gewaltsamen Lösung des Problems die Glaubwürdigkeit des Präsidenten weiter unterhöhlt.

Präzedenzfall Litauen

Natürlich steht Gorbatschow vor einer schwierigen Entscheidung: Gibt er Litauen sein Plazet, die Union zu verlassen, werden die anderen baltischen Republiken dem Beispiel folgen. Und auch Aserbaidschan und Georgien werden dann nicht mehr auf sich warten lassen. Ein Gesundschrumpfungsprozeß des Riesenreiches steht ohnehin für die 90er Jahre an. Warum also nicht auf friedlichem Wege einen „Präzedenzfall“ schaffen? Dem stehen zunächst die Interessen der Militärs entgegen, die an den baltischen Republiken wegen der Ostseehäfen ein vehementes Interesse haben. Mit Kritik müßte er auch von den Konservativen rechnen, die sich gerade anschicken, der Moskauer Zentrale durch die Gründung einer vornehmlich rechtsgestrickten KP Rußlands Sand ins Getriebe zu streuen.

Doch dies sind alles Fakten, die für Gorbatschow nicht neu sind. Wenn er, wie beabsichtigt, den Weg ins Mehrparteiensystem nach dem 28.Parteitag im Juli öffnen will, bräuchte er vor den Konservativen keine Manschetten zu haben. Denn trotz der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung haben sich diese Kräfte weitestgehend diskreditiert und können kaum auf Zuspruch hoffen. Gorbatschows Motive, sich durch diese Drohgebärde im eigenen Land noch unbeliebter zu machen, bleiben im Dunkeln. Denn eins ist klar: Die Litauer werden kaum einen Rückzug machen. An ihrem Entschluß zur Sezession hat die Volksbewegung „Sajudis“ von Anfang an keinen Zweifel aufkommen lassen. Nur heute sitzt sie in der Regierungsverantwortung, und die Massen haben sich zunehmend radikalisiert. Und Moskau hat die Chance eines frühzeitig einzuschlagenden Verhandlungsweges, der einen schrittweisen Ausstieg oder sogar noch die Möglichkeit einer Erneuerung der Föderation weitestgehend souveräner Staaten hätte beinhalten können, vertan. Dieser Zeitpunkt wäre vor zwei Jahren gewesen, als sich die Unabhängigkeitsbewegungen zu formieren begannen.

Es ist kaum anzunehmen, daß Gorbatschow glaubt, mit seinem Ultimatum, das auf ökonomische Pressionen setzt, tatsächlich etwas erreichen zu können. In der Tat wird Litauen mit den ökonomischen Sanktionen zu kämpfen haben. Das Land verfügt über keine Rohstoffe oder Energiequellen. Bisher berechnete Moskau den Litauern für eine Tonne Erdöl 30 Rubel. Der Weltmarktpreis dagegen liegt um die 100 Dollar, und die Hoffnungen des kleinen Landes, Anschluß an den westlichen Markt zu finden, sind zum jetzigen Zeitpunkt völlig illusionär.

Klaus-Helge Donath, Moskau