Wer ist der Stärkste im europäischen Haus?

Die EG-Institutionen sollen nach dem Vorbild der Bundesrepublik zu einer föderalen Demokratie ausgebaut werden / Mitgliedsländer noch uneinig / Demokratische Aufbrüche im Osten haben Diskussion über institutionelle Reform der EG beschleunigt / Bislang haben die Parlamentarier wenig, die Eurokraten fast alles zu sagen  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

Königlicher Glanz strahlt von buntgemusterten Marmorwänden. Stimmengewirr hallt über pompöse Treppenaufgänge. Seine Exzellenz, der belgische Außenminister, konferiert über die Zukunft Europas, sein Leitmotiv heißt „Demokratie“. Allerdings geht es im Brüsseler Egmont-Palast nicht um den ganzen Kontinent - vielmehr sorgt sich Mark Eyskens um die Zukunft der EG. Denn seit die Länder Mittelosteuropas das westliche Demokratiemodell kopieren, erweist sich der undemokratische Charakter der Europäischen Gemeinschaft immer mehr als propagandistischer Nachteil. Das institutionelle Schandmal, so der Außenminister im Chor mit seinem Premierminister Wilfried Martens Ende März, muß beseitigt werden, möglichst noch vor 1992. Schließlich ist dies der Beginn des Europäischen Zeitalters, das wahrmachen soll, was schon Emanuel Kant in seinem Werk Zum Ewigen Frieden vor 200 Jahren festgestellt hatte: Ein dauerhafter Friede könne nur durch einen Föderalismus freier Staaten erreicht werden.

Anders als im Osten, wo Entstalinisierung auch die Wiederbelebung der Nationalstaaten bedeutet, streben die EG -Visionäre parallel zur Demokratisierung die Verschmelzung der zwölf Mitgliedsstaaten zu einer Europäischen Union an. In doppelter Weise ein schwieriges Unterfangen: Die zwölf Regierungen sind sich nicht im geringsten einig, ob sie wirklich eine politische Union wollen. Schließlich würde dies einen weiteren Schritt hin zur Aufgabe ihrer Souveränität bedeuten. Neben der britischen tut sich vor allem die deutsche Regierung schwer damit, den gerade gewonnenen Machtzuwachs bedingungslos aufzugeben.

Hinzu kommt, daß eben diese Regierungen von den bestehenden EG-Strukturen profitieren: Danach ist die seit der Französischen Revolution vielfach beschworene Demokratie westlichen Zuschnitts in der EG außer Kraft gesetzt. Auch wenn der politische Einfluß des Europaparlaments mit der Einheitlichen Akte 1987 gestiegen ist, dienen die Europaabgeordneten noch immer als Alibi-Demokraten. Denn am Ende des Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet allein der Ministerrat die mehr als 270 Rechtsakte zur Verwirklichung des Binnenmarkts. Allerdings überlassen die ministeriellen Überflieger das Aushandeln der Kompromisse gerne ihren beamteten Experten - wegen der kniffligen Details. Daß dabei nichts schief geht, dafür sorgen Tausende von Lobbiisten industrieller Interessenverbände und die EG-Kommission.

Der 15.000köpfige Eurokratenapperat bereitet die Gesetze vor, die die Exekutive der Mitgliedsstaaten in Brüssel oder Luxemburg hinter verschlossenen Türen verabschiedet. Effekt: Die nationalen Parlamente werden entmachtet und zu bloßen Nachvollzugsorganen degradiert. Denn die vom Rat beschlossenen „Richtlinien“ sind bindende Gesetze, die nach einer Frist von 18 Monaten bis zu drei Jahren von den Länderparlamenten in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Gibt es dabei Ärger, tritt der Europäische Gerichtshof in Aktion. Die von den Mitgliedsregierungen für sechs Jahre bestellten Richter entscheiden, was EG-Recht ist, meist nach Maßgabe der Binnenmarktförderlichkeit.

Daß dieser „vorkonstitutionelle Zustand der EG“ die Zukunft eines geeinten EG-Europas behindert, ist Chefvisionär Jacques Delors Ende letzten Jahres klar geworden: „Die kulturellen und politischen Bewegungen im Osten verlangen von uns eine politische Antwort.“ Ganz im Sinne Kants schlug der EG-Kommissionspräsident deshalb vor, die EG in eine europäische Föderation umzuwandeln. Dies sei nötig, wenn die EG auf 20 oder sogar 22 Mitgliedsländer (EFTA, Osteuropa) ausgeweitet werden sollte. Mit den bisherigen Strukturen, so Delors, sei das unmöglich.

Alter Traum

von der Föderation

Im Zentrum der Föderation nach bundesdeutschem Vorbild soll eine dynamisierte Kommission als Prototyp einer europäischen Regierung stehen. Kleinkram wie die Harmonisierung von Rechtsvorschriften im Landwirtschaftbereich oder die Kontrolle von Firmenfusionen soll an unabhängige Organisationen ausgelagert werden. Die geplante Umweltagentur könnte dafür ein Testfall werden. Statt dessen will Delors der Kommission mehr Kompetenzen im Bereich der Außen- und Rüstungspolitik übertragen. Dazu möchte er den Kommissionsapparat zurechtstutzen und die 17 Kommissare auch während ihrer vierjährigen Amtszeit abwählbar machen. Dem EG -Rat hingegen wird in diesem Konzept eine ähnliche Funktion zuteil wie dem Bundesrat in der BRD. Auf jeden Fall sollen dort Beschlüsse nur noch nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden statt wie bisher in wichtigen Fragen mit Einstimmigkeit. Und natürlich bekommt das Europäische Parlament mehr Rechte, um den Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente auf EG-Ebene auszugleichen. Unterlegt ist dem Ganzen der Grundsatz der Subsidiarität, der besagt, daß soviel politische Verantwortung wie möglich nach unten von Brüssel weg zu delegieren sei. Delors Zeitplan: Bis Ende des Millenäums soll die politische Union verwirklicht werden - wenn es sein muß auch ohne Großbritannien.

Diskutiert wird der Vorschlag im Dezember auf zwei parallel stattfindenden Regierungskonferenzen, die sich sowohl mit den noch offenen Fragen zur Wirtschafts- und Währungsunion als auch mit der Politischen Union beschäftigen sollen. Darauf haben sich der derzeit amtierende EG-Ratspräsident Haughey aus Irland und Bundeskanzler Kohl Ende März geeinigt. Mit Ausnahme von Thatcher ziehen die anderen Regierungschefs mit. Warum sich die elf plötzlich sogar zweispalten wollen, wo ihnen das Thema doch jahrzehntelang nicht der Rede wert war? Zwei Gründe gibt es für das überraschende Interesse an der Politischen Union: die Befürchtung, den Demokratisierungsprozeß bei längerem Hinauszögern nicht mehr kontrollieren zu können, und die Angst vor einem deutsch-deutschen Alleingang. Man hofft durch ein politisches Zusammenrücken stärkeren Einfluß auf die zukünftige deutsche Politik ausüben zu können. Und Kohl? Im Brustton des überzeugten Europäers fordert er: Fortschritt bei Wirtschafts- und Währungsunion darf es nur geben, wenn eine demokratische Kontrolle der EG-Kommission gesichert ist. Weil die, so rechnet der eigentliche Sieger der DDR-Wahl, die lästige EG-Wirtschafts- und Währungsunion weiter hinauszögern wird.

Parlamentarier

begehren auf

Im anstehenden Tauziehen um Macht und Einfluß in Europa will auch das Europaparlament nicht zurückstehen, zumal es von den Neuerungen profitieren soll. Bereits im November 1989 und erneut Mitte März forderten die Parlamentarier deshalb in Straßburg mit überwältigender Mehrheit, die Verhandlungen über die Änderung der Gemeinschaftsverträge im kommenden Dezember auf die Schaffung eines westeuropäischen Bundesstaates auszuweiten. Denn zur Erweiterung seiner Rechte wünscht sich das Parlament, daß die Gesetzgebungsbefugnis künftig nach dem Schema Bundesrat (Ministerrat) und Bundestag (Parlament) geteilt wird. Zur Vorbereitung der Regierungskonfenenz initiierte der Berichterstatter des Parlaments, David Martin, für den 16. Mai eine vorbereitende „interinstitutionelle Konferenz“, an der zwölf Parlamentarier und gleichviele Abgeordnete aus nationalen Parlamenten teilnehmen sollen. Geladen sind die EG-Außenminister und Delors. Der Kommissionschef hat bereits zugesagt.

Nach Ansicht des schottischen Labour-Abgeordneten sollen folgende Forderungen beschlossen werden: Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat; Mitentscheidungsbefugnisse des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung und der Kontrolle einschließlich des Initiativrechts für legislative Vorschläge; Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament; vertraglich festgelegter Ausbau der Bereiche Soziales und Umwelt; Zusammenfassung der außenpolitischen Zusammenarbeit (EPZ) zu einer gemeinsamen Außenpolitik. Die Teilnahme an der Politischen Union, so Martin, ist für kein Mitgliedsland Zwang, kann aber auch nicht gegen die Mehrheit der Stimmen von einem oder einigen blockiert werden.

Federführend für die Reformdiskussion im Parlament ist der Institutionelle Ausschuß. Neben dem Chef der Radikalen Partei Italiens, Marco Panella, gibt hier vor allem der französische Ex-Präsident Giscard D'Estaing den pathetischen Ton an. Anfang März forderte er die Regierungschefs auf, sich beim Sondergipfel in Dublin am 28. April für eine Europäische Verfassung auszusprechen, die das Parlament verfassen soll. „Die traditionelle Suche nach einem Gleichgewicht zwischen souveränen Staaten sollte von einem internen Ausgleich und der Erhöhung des gemeinsamen Ziels abgelöst werden.“ Der britische konservative Abgeordnete, Sir Fred Catherwood, hingegen will britische Adelsverhältnisse im Europäischen Parlament einführen: Ein House of Lords, ein Oberhaus soll für die zwölf nationalen Parlamente mit 152 Mitgliedern und einem doppelten Mandat eingerichtet werden, um die Annahme von EG-Gesetzen durch die nationalen Parlamente zu vereinfachen. Da konnte selbst Europa-Gegner Sir Geoffrey Howe, seines Zeichens Außenminister seiner britischen Majestät, nicht „Nein“ sagen. Um das britische Parlament stärker in die EG -Entscheidungen einzubinden, sollen die Parlamentarier in London zukünftig vor jedem EG-Ministerratstreffen einen Tag die anstehenden Themen debattieren dürfen. Auch der italienische Europaabgeordnete Maurice Duverger sorgt sich um seine Kollegen aus den nationalen Parlamenten: Auf jeden Fall müssen sie enger in den Entscheidungsprozeß eingebunden werden, schon allein, um Rivalitätsgefühle zu verhindern.

„Guerilla Taktik“

der Kommission

Daß Rivalitäten auftauchen, ist angesicht der neuen Machtkonstellationen nicht verwunderlich. Offen brach der Machtkampf schon Anfang des Jahres aus, als die Parlamentarier sich zwar nicht gegen den allmächtigen Rat auflehnten, aber immerhin gegen die Erzrivalen in der Kommission zu Felde zogen. Das Stimmungstief zwischen den beiden EG-Institutionen nahm bedrohliche Ausmaße an, als sich das Parlament bei den Entscheidungen zur Sozialcharta übervorteilt fühlte. Von „Guerilla Taktik“ war die Rede, sogar ein Mißtrauensantrag gegen Delors und seine Mannschaft wurde geplant: „Mangelnder Respekt vor dem Parlament“, warf der Chef der sozialistischen Fraktion, Jean-Pierre Cot, seinem Parteigenossen Delors vor. Ein Boykott von Gesetzesvorschlägen zum Binnenmarkt wurde angedroht, bis Sozialschutzmaßnahmen gleiche Priorität eingeräumt würden. Schließlich einigte man sich Anfang April auf einen Verhaltenskodex, der vorsieht, daß Kommission und Rat das Parlament in Zukunft stärker an ihren Entscheidungsprozessen teilnehmen lassen sollen.

Für Ungewißheit über den Ausgang der Regierungskonferenz Ende des Jahres sorgen auch die Entwicklungen an den EG -Außengrenzen. War Delors bis vor kurzem noch als Verfechter eines Ausschlusses der EFTA-Länder und der mittelosteuropäischen Reformstaaten vom EG-Binnenprozeß aufgetreten, so sorgte das Bekanntwerden einer geheimen Kommissionsstudie Ende März für Überraschung. Danach würden die EFTA-Länder Österreich, Schweden, Norwegen, Finnland, Island, die Schweiz und Lichtenstein in einem Gremium zusammen mit der EG über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) mit bald mehr als 372 Millionen potentiellen Konsumenten entscheiden. Auf paneuropäischer Ebene sollen neue Institutionen entstehen - ein EG-EFTA -Ministerrat, ein gemeinsamer Gerichtshof und ein beratender Ausschuß von Parlamentariern der EFTA-Länder und des Europaparlaments. Noch wird dieses Konzept als Kompromißvorschlag der EG-Kommission gehandelt. Den EFTA -Regierungen sollen mehr Mitspracherechte an EG -Angelegenheiten gegeben werden, um zu verhindern, daß sie Aufnahmeanträge stellen, die die EG noch stärker unter Druck setzen würden. Andererseits wird die Öffnung gegenüber den EFTA-Staaten und langfristig auch gegenüber den Ländern Mittelosteuropas mit einer weiteren Verlagerung der Gesetzgebungsmacht von den Parlamentariern (nationalen oder europäischen) hin zur Exekutive einhergehen. Schon heute können die Volksvertreter den Ministern mit ihren Expertenstäben kaum mehr in die schwindelden Höhen europäischer Gesetzgebung folgen. Nach einem Zusammengehen von EFTA und EG wird dies völlig unmöglich sein - zumal die bisherige Planung nur einen intereuropäischen Parlamentarierausschuß vorsieht, der den Europalenkern auf die Finger kucken soll.

Das Ergebnis: Während die Europarlamentarier noch um eine Demokratisierung der EG-Institutionen ringen, basteln die Eurokraten schon längst an den Vereinigten Staaten von Europa, wo wie beim US-amerikanischen Vorbild auf lokaler und regionaler Ebene Demokratie gespielt werden darf, während sich auf supranationaler Ebene die zahlungskräftigen Lobbiisten die Macht mit der Eurokraten- und Ministerkaste teilen. Umgarnt wird das europäische Demokratiemodell mit Parlamentariern, die froh sein dürfen, im Europa-Labyrinth wenigstens ihre Ausschüsse zu finden.