Super-Entsorgung im Jahr 2000 oder der "saubere Brennstoffkreislauf"

In weltweit 433 Atomreaktoren, werden heute jene Bausteine der Materie zertrümmert und neu zusammengesetzt, die noch bis vor gut einem halben Jahrhundert als unteilbar galten: Die Atome. Dabei entstehen nicht nur Wärme und Strom, sondern auch neue Atome, die es zuvor auf unserem Planeten praktisch nicht gab. Sie sind instabil und sie sind tödlich für den Menschen, wenn er ihnen ungeschützt ausgeliefert ist - manche noch in Hundertausenden von Jahren.

„Wie halten wir den Geist in der Flasche?“ Generationen von Atomwissenschaftlern haben sich über diese Frage den Kopf zerbrochen. Mal wollten sie die strahlende Hinterlassenschaft der atomaren Stromerzeugung einfach ins Meer kippen (und haben das bis 1983 auch getan), mal wollten sie die radioaktiven Massen in der Wüste Gobi vergraben. Andere schlugen vor, den strahlenden Müll an der Spitze gewaltiger Trägerraketen hinaus ins All zu katapultieren oder ihn in stabilen geologischen Formationen tief unter der Erdoberfläche auf Nimmerwiedersehen zu versenken. Man stritt und streitet noch heute darüber, ob dazu Granit am besten geeignet ist oder Schiefer oder Lehm oder Steinsalz wie in Gorleben. In Australien entwickeln Geologen ein synthetisches Gestein („synroc“), das radioaktive Stoffe angeblich sicherer und stabiler von der Biosphäre fernhalten kann, als alles, was diese Erde zu bieten hat. Und dennoch: Das Problem der atomaren Entsorgung ist weltweit ungelöst.

Einmal mehr sind es die Amerikaner, die nach Jahrzehnten kläglich gescheiterter Pfadfinderei nun von sich behaupten, sie hätten den Königsweg der Entsorgung gefunden. Die Idee ist alles andere als neu, sie wurde wohl auch nicht jenseits des Atlantiks geboren, aber nur dort wird sie systematisch weiterverfolgt. Und sie ist - auf den ersten Blick bestechend. Denn sie geht an die Wurzel des Problems.

Bei der Kernspaltung in Atomreaktoren entstehen laufend eine Vielzahl neuer, meist instabiler Elemente, die auch dann weiter zerfallen und radioaktive Strahlung aussenden, wenn die „abgebrannten“ Brennelemente dem Reaktor entnommen werden. Die sogenannte Halbwertszeit (das ist derjenige Zeitraum, in dem die Hälfte der radioaktiven Kerne einer bestimmten „Atomsorte“ zerfällt) bestimmt, wie lange es dauert, bis die tödliche Strahlung größtenteils verschwunden ist. Die Halbwertszeiten der bei der Atomenergienutzung als sogenannte Spaltprodukte anfallenden Atomsorten („Isotope“) variieren zwischen Bruchteilen von Sekunden und Millionen von Jahren. So war nach der Katastrophe von Tschernobyl das anfangs besonders gefährliche Jod-131 nach wenigen Monaten fast vollständig abgeklungen. Die Halbwertszeit beträgt gut acht Tage. Heute stammt die fortdauernde Belastung der Böden auch hierzulande im wesentlichen aus Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von fast genau 30 Jahren. Cäsium-137 und einige andere Elemente im Spaltprodukt-Cocktail eines AKWs (zum Beispiel Strontium-90 mit einer Halbwertszeit von 28,5 Jahren) verlieren also einen Großteil ihrer Radioaktivität im Verlauf von einigen hundert Jahren. Bleiben die Elemente, die über Hunderttausende von Jahren weiterstrahlen und eine sichere Lagerung des Atommülls über praktisch unendliche Zeiträume erforderlich machen. Das sind im wesentlichen die schwersten aller Atomkerne, die im Periodensystem der Elemente jenseits des Urans erscheinen („Transurane“ oder „Actiniden“ benannt nach dem Element Actinium, das diese Reihe eröffnet) und die in wägbaren Mengen vor der Entdeckung der Kernspaltung auf der Erde praktisch nicht existierten. Die wichtigsten in diesem Zusammenhang: Neptunium (Np), Plutonium (Pu), Americium (Am), Curium (Cm).

Die Amerikaner wollen sich der ungelösten und wohl auch unlösbaren Aufgabe der Langzeitsicherung entledigen, indem sie die Entsorgung schlicht überflüssig machen. Dazu sollen die in konventionellen oder einer neuen Generation von Atommeilern anfallenden, langlebigen Spaltprodukte in nachgeschalteten Brutreaktoren praktisch vollständig in kurzlebige Isotope zurückverwandelt werden. Mithilfe der „Actinidenbrenner“ sollen, so erklärte es zuletzt Jerry D. Griffith vom US-Department of Energy (DoE) der in Düsseldorf versammelten europäischen Atomgemeinde, nicht nur die immensen Kosten für die Behandlung des hochradioaktiven Mülls „entscheidend gesenkt“ werden. Die DoE-Strategen hoffen vor allem, mit ihrer Ankündigung einer eleganten Lösung des Entsorgungsproblems der auch in den USA nach Harrisburg und Tschernobyl arg gebeutelten Atomwirtschaft wieder auf die Beine zu helfen.

Was Griffith verspricht, ist in der Tat außerordentlich. Nach der Actinidenumwandlung wäre nämlich nach seinen Worten „das mit dem hochradioaktiven Reaktorabfall verbundene Strahlenrisiko um einen Faktor 100 oder mehr kleiner, als die Gefahr, die von natürlichem Uranerz ausgeht“. Und: „Die notwendige Lagerzeit könnte von einer Million auf nur noch zwei- oder dreihundert Jahre reduziert werden.“ Doch wie bei allen schönen Träumen liegt auch hier der Teufel im Detail. Daß die Actinidenumwandlung physikalisch möglich ist und dazu die ungebremsten Neutronen Schneller Brutreaktoren grundsätzlich am besten geeignet sind, ist seit 20 Jahren bekannt. Doch das Gefährdungspotential solcher Reaktoren würde sich mit dem gezielten Einsatz großer, hochkonzentrierter Mengen der gefährlichsten aller radioaktiven Substanzen vervielfachen. Hochkomplex und mit gewaltigen Risiken verbunden wäre auch die vorgeschaltete Trennung der langlebigen Actiniden von den Isotopen mit kürzeren Halbwertszeiten. Dazu müßten zusätzliche, vielstufige „chemische Trennungsgänge“ durchgeführt werden, die die Komplexität einer Wiederaufarbeitungsanlage, in der nur Uran und Plutonium abgetrennt werden, bei weitem übertreffen würden.

Als sich vor bald 15 Jahren Atomforscher aus aller Welt unter dem Dach der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) trafen, um über mögliche Entsorgungspfade zu beraten, erklärte eine italienische Forschergruppe die nun jenseits des Atlantiks mit Hochdruck verfolgte Actinidenumwandlung für grundsätzlich machbar. Eine vergleichende Risikoabschätzung allerdings verlief deprimierend. Denn, so die italienische Gruppe um W. Brocola und F. Gera, die mit der Umwandlung verbundenen Risiken übertreffen das Gesamtrisiko einer direkten Einlagerung in „sehr geeigneten geologischen Formationen“ um einen Faktor 2.000.

Heute - die Langzeitendlagerung in geologischen Formationen ist inzwischen mit zahllosen Unsicherheiten verbunden - gibt sich Jerry D. Griffith ausgesprochen selbstbewußt. Spätestens in fünf bis zehn Jahren würden die Europäer auf den in den USA entwickelten Entsorgungszug aufspringen, meinte der Mann vom Department of Energy. Noch allerdings wehren sie sich: Hans-Henning Hennies vom Kernforschungszentrum Karlsruhe empfand die Ideen der Amis als „Störung“, die allenfalls „für die Grünen interessant“ seien.

Gerd Rosenkranz