Marktwirtschaft muß nicht Kapitalismus bedeuten

Interview mit dem Sektionsleiter der ideologischen Abteilung in der KPdSU, Wjatscheslaw Nikonow  ■ I N T E R V I E W

Bevor der 33jährige Wjatscheslaw Nikonow auf seinen heutigen Posten wurde, lehrte er als Professor an der Moskauer Staatsuniversität Geschichte und politisches System der USA. Im ZK ist er mit der Aufgabe betraut, die Ergebnisse der Forschungsinstitute der Partei zu koordinieren und deren praktische Umsetzung in den Organen der Partei zu fördern.

taz: Herr Nikonow, spätestens seit dem 27. Parteitag hat der Leninismus als Integrationsideologie der KPdSU seine Bedeutung eingebüßt. Gehört es jetzt zu ihren Aufgaben, ein Alternativkonzept zu entwickeln, das die Rolle des Marxismus -Leninismus ersetzen könnte?

Wjatschewlaw Nikonow: Es geht nicht darum, den Marxismus -Leninismus durch ein anderes Paradigma zu ersetzen. Richtig ist, daß wir in der Vergangenheit die breite Tradition der Sozialismuskonzeptionen ignoriert haben. Auch ein Kautsky oder Bernstein gehören dazu. Aber Antworten auf unsere gegenwärtigen Probleme können wir nur selbst finden. Neben dem M-L soll unsere Politik daher auf der breiten Basis sozialistischer Traditionen und einem von der Vernunft geleiteten Common Sense fußen.

Was heißt das denn im Klartext? Eine Annäherung an sozialdemokratische Positionen?

Natürlich, das kann man ohne weiteres so sagen.

Nun hat sich doch aber gerade auf dem letzten Plenum des ZK gezeigt, daß Vertreter sozialdemokratischer Positionen wieder mit den alten Feindbegriffen „Opportunist“ und „Revisionist“ denunziert wurden?

Es ist nicht einfach, das Bewußtsein „umzugestalten“. Aber die Wurzel des Schismas zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die Bewertung der „Diktatur des Proletariats“, gehört heute nun wirklich der Vergangenheit an. Wir wollen nicht einfach die westlichen Staaten und ihre Probleme kopieren, aber lernen können wir daraus.

Nun gut, das mag Ihre Meinung sein. Im Zentralkomitee sieht man das doch aber wohl anders. Zum einen wurden in das neue Parteistatut der „demokratische Zentralismus“ und das „Endziel des Kommunismus“ erneut aufgenommen, zum andern wurde auch die Avantgarderolle der Partei wieder betont. Sollte das nur ein Köder für die Konservativen gewesen sein? Hier liegt doch offenkundig ein Widerspruch zum ZK-Entwurf vom Februar, der auf einen „demokratischen und humanen Sozialismus“ orientierte.

Ich glaube, daß der Unterschied im Verständnis der Avantgarde liegt. Es gibt die Befürchtung, das Statut würge Initiativen von unten ab und schütze die Minderheitsrechte nicht. Außerdem gebe es den Abgeordneten der Partei keine Möglichkeit, ihre Meinung im Parlament frei zu äußern. Das sind Schatten der Vergangenheit, Afanassjews oder Jelzins Beiträge im Obersten Sowjet sind doch lebendige Gegenbeispiele. Im ZK-Entwurf sind jetzt auch Änderungen vorgenommen worden. Nach Umfragen unter Parteimitgliedern möchte die große Mehrheit an diesem Prinzip festhalten.

Die Partei hat in der letzten Zeit zunehmend Handlungsunfähigkeit an den Tag gelegt, allerjüngstes Beispiel: die Ereignisse in Litauen. Hängt das nicht mit den Richtungsstreitigkeiten zusammen? Wirkt die krampfhaft erhaltene Einheit nicht eher kontraproduktiv?

In der Tat hat sich die Partei als handlungsunfähig erwiesen. Das liegt aber nicht an den Richtungsstreitigkeiten, sondern an der viel zu spät in Angriff genommenen Reform. Heute muß die Partei um die Einheit kämpfen, dadurch ist die Spaltung aber nicht ausgeschlossen. Ansätze zur Abspaltung sind schon vorhanden. Das begrüße ich allein deshalb schon nicht, da andere politische Parteien entstanden sind und wir demnächst auf Wahlen zu gehen.

Einheit aus wahltaktischen Gründen?

Natürlich spielen die eine Rolle. Andererseits kann die Partei nicht für alle ideologischen Richtungen offen sein. Dazu gehören eindeutige Befürworter einer kapitalistischen Zukunft des Landes.

Das heißt, alle die eine Öffnung in Richtung Marktwirtschaft favorisieren? Also auch Afanassjew, Popow und Jelzin?

Öffnung in Richtung Marktwirtschaft bedeutet nicht automatisch kapitalistisch. Markt ist ein gesamtgesellschaftlicher Wert. Was den Austritt der Reformer betrifft, so bin ich dagegen. Andererseits hat Afanassjew schon angekündigt zu gehen. Es ist nur noch eine Frage des Wann und Wie. Das würde die Reformgegner letztlich stärken. Innerhalb der Partei, glaube ich, könnten sie mehr erreichen und als Regulativ wirken. Nach einem Austritt würden sie sich sehr schnell isolieren.

Ist die Gründung einer kommunistischen Partei Rußlands ein Zeichen dafür, daß die rechten Kräfte sich mittlerweile formieren und zum Gegenangriff antreten?

So einfach ist das nicht, aber die Mehrheit der Initiatoren gehört dem konservativen Spektrum an. In erster Linie geht es ihnen darum, bessere Ausgangsbedingungen für die Entwicklung Rußlands zu schaffen. Auch Michail Gorbatschow hat sich ja für eine Parteikonferenz zu dieser Frage stark gemacht, die sich allerdings aus den Delegierten zum 28. Parteitag zusammensetzen sollte. Die Leningrader Konferenz ist ein Alternativprojekt, dessen Motiv nicht zuletzt darin besteht, eine Gegenmacht zur zentralen Politik der Perestroika in Moskau zu schaffen.

K.H. Donath