„Bevor ein Deutscher geht, fliegt ein Vietnamese“

■ Immer mehr DDR-Betriebe wollen ihre ausländischen Arbeitskräfte loswerden / „Wir werden beschimpft und ungerecht behandelt“

Berlin (dpa) - Noch vor drei Jahren war für Hoa die DDR ein „sozialistisches Paradies“. Im wirtschaftlich schwer gebeutelten Vietnam hatte die 23jährige Weberin vom „reichen sozialistischen Bruderland“ im fernen Europa gehört. Wie ein Wink des Schicksals erschien es da, als das DDR-Ministerium für Leichtindustrie 1987 in Saigon Arbeitskräfte für die Textilindustrie suchte. Sechs Monatslöhne in Gold kratzten Hoas Eltern zusammen, um der Tochter den Weg ins vermeintliche Paradies zu ermöglichen: Für diese Summe machte ein vietnamesischer Arzt Hoa bei der Einstellungsuntersuchung zwei Zentimeter größer und bestätigte ihr so die zur Beschäftigung in der DDR notwendige Größe von 1,50 Meter.

Hoa wußte nicht, daß das „Bruderland“ handfeste wirtschaftliche Probleme hatte. 1985 fehlten in der DDR Devisen, um die Industrie zu modernisieren, und Arbeiter, um durch zusätzliche Schichten den verordneten Leistungszuwachs zu garantieren. Einen Ausweg bot ein Vertrag, der zwischen Vietnam und der DDR bereits 1980 „zur Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit“ geschlossen wurde und die „zeitweilige Beschäftigung und Qualifizierung vietnamesischer Werktätiger“ in der DDR regelte.

Seit 1985 modifiziert ein Zusatzprotokoll den Vertrag: Nicht die Ausbildung, sondern die Arbeitskraft trat damit in den Vordergrund. Der Weg war frei für einen Arbeitskräfte -Import großen Stils: Allein aus Vietnam sollten bis Ende dieses Jahres 20.000 bis 25.000 zusätzliche Arbeitskräfte helfen, die marode Planwirtschaft wieder flott zu machen. Auch Vietnam profitierte von dem Arbeitskraft-Transfer: Die hohe Arbeitslosigkeit wurde gesenkt, zusätzlich mußten die DDR-Vietnamesen 14 Prozent ihres Lohnes in das Heimatland abführen.

Der Einsatz in der DDR erfolgte jetzt nach Bedarf, die Ausbildung war Nebensache: Hoa durfte nicht, wie gewünscht, in ihrem Traumberuf als Weberin weiterarbeiten. Nach der Ankunft in der DDR wurde ihr Paß eingezogen, dann ging es per Bus in eine Näherei bei Leipzig. Seit 1985 wurde die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte verdreifacht, heute arbeiten noch rund 87.000 der „Vertragspartner“ in der DDR, davon 58.000 aus Vietnam.

Der plötzliche Arbeitskräfte-Schub traf die 900 ausgewählten DDR-Betriebe vollkommen unvorbereitet. Beim Ostberliner Herrenkonfektionsbetrieb VEB Fortschritt wurde im Mai 1986 die Belegschaft auf einen Schlag um 20 Prozent erhöht. Zwei Monate nach der Ankündigung des Ministeriums für Leichtindustrie standen 700 vietnamesische Arbeitskräfte vor den Werkstoren. Auf der einen Seite, so der Betriebsdirektor, „gab es natürlich ein Aufatmen, daß wir das Arbeitsvermögen absichern konnten“, auf der anderen Seite aber Stimmen, die meinten, „müssen es denn so viele auf einmal sein?“ In Monatsfrist sollten die Betriebe den neuen Mitarbeitern Deutsch beibringen, sie an den Arbeitsplätzen anlernen und „die Inanspruchnahme der kulturellen, sportlichen und sozialen Betriebseinrichtungen“ garantieren.

Heute macht man sich auch im DDR-Ministerium für Arbeit und Löhne, zuständig für die Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer, keine Illusionen über die Versäumnisse der Vergangenheit. Es habe kein ausreichendes Konzept für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer gegeben, meint der zuständige Abteilungsleiter Jürgen Schröder im Rückblick: „Es fehlte die Zeit, um die soziale Komponente zu berücksichtigen.“

Wachte vor dem 9. November die DDR-Obrigkeit mit strengem Blick über die „brüderliche Zusammenarbeit“ in den Betrieben und kehrte vereinzelte Ausschreitungen sorgsam unter den Teppich, so brach der Konflikt nach dem Fall der Mauer offen aus. Die Marktwirtschaft vor Augen, wurde der ausländische Kollege für die deutsche Belegschaft über Nacht zum Konkurrenten. Erschrocken ist man im Ministerium für Arbeit und Löhne über die „Härte, wie in den Betrieben diese Auseinandersetzung jetzt ausgetragen wird“.

Die wirtschaftlich unsichere Situation sei mittlerweile ein „Herd für Spannungen und Tätlichkeiten zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern, die sich täglich entladen“, sagt Schröder. Vielerorts werde jetzt nach dem Motto verfahren: „Bevor ein Deutscher geht, fliegt ein Vietnamese.“ Einige Betriebe hätten bereits versucht, diese Forderung mit Streikandrohungen durchzusetzen. In Hoas Schneiderei wurde die Stimmung für die Vietnamesen nach der Maueröffnung unerträglich: „Das Leben einer Arbeiterin in Vietnam war schon hart genug, aber in der DDR kam dann hinzu, daß wir beschimpft, schikaniert und ungerecht behandelt wurden.“

Um eine Eskalation zu vermeiden, beantragen immer mehr Betriebe, zum Teil unterstützt von Gewerkschaftsgruppen, die Rückführung ausländischer Mitarbeiter in ihre Heimat. Aus 150 der 900 DDR-Betriebe mit ausländischer Belegschaft stapeln sich solche Forderungen auf Schröders Schreibtisch. Rund 7.000 ausländische Arbeitnehmer sollen nach dem Willen ihrer Betriebe die Koffer packen. Eine Umsetzung in andere Produktionszweige ist unmöglich, es gibt keine freien Plätze mehr.

Vor willkürlichen Kündigungen aber sind zumindest die 58.000 Vietnamesen durch das Regierungsabkommen geschützt. Es garantiert eine fünfjährige Beschäftigung zum DDR-Lohn; eine einseitige Kündigung durch den Betrieb oder eines der beiden Unterzeichner-Länder ist in den 19 Artikeln nicht vorgesehen. Bislang hat das Ministerium für Arbeit und Löhne die Betriebe „auf die Rechtslage verwiesen“ und so die Entlassungen verhindert. Dadurch werden aber die Spannungen nicht abgebaut. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, müsse den Belegschaften vor allem die Unsicherheit genommen werden, meint Jürgen Schröder: „Ein klares Wort zur Wirtschafts- und Währungsunion könnte den Konflikt vielleicht entschärfen.“

Der Experte plädiert für eine Individualisierung der Arbeitsverträge, kombiniert mit einem Bleiberecht. Wer bleiben will, soll auch über die vereinbarten fünf Jahre hinaus bleiben können: „Während wir täglich jammern, daß Tausende Leute unser Land verlassen, halten wir die wenigen Ausländer hier für eine Bedrohung. Es gibt soviel zu tun in diesem Land, daß man alles dransetzen müßte, um diese Leute im Land zu behalten.“

Hoa wollte nicht so lange warten. Nach ständigen Anfeindungen in ihrem Betrieb und Gerüchten über eine bevorstehende Abschiebung aller Vietnamesen flüchtete sie nach West-Berlin - wie 3.500 Landsleute vor ihr.

Ernst-Ludwig von Aster