Von der ersten in die letzte Reihe

■ Auflösung der Sektion Marxismus-Leninismus an der Humboldt-Universität wird für mehr als 100 Wissenschaftler zur Existenzfrage / Übernahme in andere Sektionen fraglich

Hauptsache, der alte Zopf ist ab, über die neue Frisur machen wir uns später Gedanken. Dieser Eindruck drängt sich bei der Auflösung der Sektion Marxismus-Leninismus auf. Obwohl die Sektion erst Ende August geschlossen werden soll, sind die Türschilder bereits abmontiert. Was der räumliche Rausschmiß äußerlich demonstriert, wird auf der individuellen Ebene für mindestens die Hälfte der 250 Beschäftigten zur Existenzfrage. Keiner will sie haben. DDR -weit mehr als 2.000 ML-Hochschullehrer, die „in den vorderen Reihen die schöpferische Anwendung des Marxismus -Leninismus in der Politik der Partei“ als Pflichtveranstaltung an die Studenten weitergegeben haben, werden sich künftig in den letzten Reihen der Gesellschaft wiederfinden, in den Arbeitslosenschlangen vor dem „Amt für Arbeit und Löhne“.

„Dutzende von Mitarbeitern, die bei Dutzenden von Stellen“ nicht zuletzt aufgrund ihrer ML-Tätigkeit abgelehnt wurden, kennt der Sektionsdirektor Professor Dr. Lassow. Allenfalls für rund 100 Mitarbeiter sieht er innerhalb der Universität die Chance, aufgrund ihrer vorhandenen Doppelqualifikationen an anderen Sektionen unterzukommen. „Bloß diese Quatscher nicht“, winken Mitarbeiter anderer Sektionen ab, was Larissa Klinzing, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Wissenschaft, als „mangelnde Solidarität“ interpretiert.

Sie beklagt den inhumanen und strategielosen Aktionismus, der zuerst die Entlassungen festschreibe, ohne Konzepte für die Weiterentwicklung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu entwickeln. Die Gewerkschaft fordere deshalb ein Sozialschutzabkommen und finanzierte Umschulungsmaßnahmen. Eine ihrer Kolleginnen aus der Sektion sieht durchaus eine Kollegialität, es gebe jedoch Rationalisierungsängste und Einstellungsstopps auch in den übrigen Hochschul- und Gesellschaftsbereichen.

Um die Leute nicht direkt auf die Straße zu setzen, hat die Universität selbst Umschulungsprogramme organisiert; ca. ein Viertel der Beschäftigten hat dafür Interesse angemeldet. „Institutionalisierung eines Wartesaals mit Endziel Straße“ und „pipifax“ nennt es ein wissenschaftlicher Mitarbeiter aus einer „etablierten“ Sektion. Niemand könne derzeit definieren, welche Anforderungen zukünftig an Lehre und Forschung gestellt würden. Das anstatt des obligatorischen ML-Studiums künftig geplante „studium generale“ sieht auch Professor Lassow nur „als gutgemeinten Ersatz“, für das es nirgendwo konkrete Konzepte gäbe.

Bei allem Bemühen, nicht ins Jammern zu verfallen, spürt man die individuellen Hoffnungen, zu den Auserwählten zu gehören, die an der Universität verbleiben dürfen. Vielleicht doch noch im Rahmen von Fachstudienvorlesungen die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus - befreit vom Diktat der Partei - vermitteln zu können. „Der Verzicht auf ein breites geistiges Spektrum war ein großer gesellschaftlicher Irrtum“, bekennt Lassow, die theoretischen Grundsätze des Marxismus-Leninismus, erheblich ergänzt und korrigiert, sollten jedoch nicht völlig aus dem Lehrangebot herausfallen. Nicht viel Hoffnung setzen die Marxisten-Leninisten allerdings in den DDR-Bildungsminister, die Ängste vor der Konkurrenz der Freien Universität sind latent. Ob nun ihre Bemühungen als „Kunstgriff, die Fahne zu wechseln“, interpretiert werden müssen oder, wie Lassow meint, „nicht als Etikettenschwindel“ zu werten ist, „wenn der eine oder andere versucht, sich woanders unterzubringen“, werden die Studenten in der zukünftig freien Wahl der Veranstaltungen entscheiden.

Sigrid Bellack