Noch ist der Benzinhahn offen!

■ Gorbatschow zögert weiter mit der Durchführung der Energieblockade / Heftige Debatte im Parlament zu Vilnius über mögliche Zugeständnisse an die UdSSR / Sowjetische Presse gibt sich zurückhaltend / USA-Sanktionen?

Moskau/Vilnius (afp/ap) - Die von Moskau angekündigten Wirtschaftssanktionen gegen die baltische Republik Litauen sind am Mittwoch noch nicht in Kraft getreten. Litauen werde auch weiterhin mit Öl und Gas aus der UdSSR versorgt, teilte der Energieminister Litauens, Leonas Asmantas, in einer Sendung von Radio Vilnius mit. Auch gebe es keinerlei Hinweise auf eine Reduzierung der Liefermenge.

Am Dienstag brach Ministerpräsidentin Kasimiera Prunskiene zu einem zweitägigen Besuch nach Norwegen auf. Ihr Büro teilte mit, daß eine Zwischenlandung in Moskau geplant sei. Frau Prunskiene will sich in Norwegen mit Unternehmern treffen, die der Republik ihre Hilfe angeboten hatten, falls die Sowjetunion ihre Blockadedrohungen wahr machen sollte.

Das Parlament in Vilnius hat sich nach heftigen Debatten noch nicht auf eine Antwort auf Gorbatschows Blockade -Ultimatum einigen können. Die Abgeordneten diskutierten darüber, ob es sich bei der Androhung der Wirtschaftssanktionen um einen Akt „psychologischer Kriegsführung“ handle oder tatsächlich mit der Verknappung der Energierohstoffe gerechnet werden müsse. Im Gespräch war ferner eine Note, in der die Führung erklärt, daß sie die Umsetzung wichtiger, nach der Unabhängigkeitserklärung beschlossener Gesetze bis zum 1. Mai aufschieben werde, falls es zwischen Moskau und Vilnius zu „Verhandlungen über Verhandlungen“ komme.

Dabei handelt es sich in erster Linie um die Frage der Wehrpflicht litauischer Soldaten in der Sowjetarmee und um das litauische Paßgesetz. Der dem Parlament in Vilnius vorliegende Antrag stellt fest, daß Wirtschaftssanktionen „kein angemessenes Mittel“ sind, den Konflikt zwischen der Sowjetunion und Litauen zu lösen. Die sowjetischen Zeitungen vom Mittwoch enthielten mit Ausnahme der 'Iswestja‘, die sachlich berichtete, kein Wort zur Drohung mit der Wirtschaftsblockade. Selbst die 'Sowjetskaja Rossija‘, Ligatschows Hausblatt, schwieg.

Die Bevölkerung Litauens reagierte ruhig auf die Blockadedrohung der sowjetischen Regierung, doch wurden die Tankstellen von Autofahrern mit Reservekanistern belagert. Der Energieminister teilte mit, es gebe keinerlei Anlaß zu Hamsterkäufen, Rationierungsmaßnahmen seien nicht notwendig. Dennoch geben die Tankstellen derzeit nicht mehr als vierzig Liter Benzin per Auto ab.

Auf nicht näher spezifizierte Sanktionsdrohungen Präsident Bushs eingehend, erklärte Außenminister Schewardnadze, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen könnten tatsächlich beeinträchtigt werden, wenn sich die „Affäre Litauen“ zuspitze. Bis jetzt habe die USA allerdings eine vernünftige Politik betrieben.