Wenn der „Schutzwall“ fällt

Mit der Mauer wird die alte Ordnung abgerissen  ■ K O M M E N T A R

Eine sensationelle Nachricht war es nicht, als Lothar de Maiziere gestern ankündigte, daß die Mauer noch im Sommer geschleift wird. Mit der vorherigen Erklärung des DDR -Innenministers Diestel, demnächst auf Grenzkontrollen zu verzichten, hat die Mauer ihre letzte Legitimation als Wirtschafts- und Währungsgrenze verloren. Doch der Abriß des 160 Kilometer langen Betonwalls, wird den Alltag und das Lebensgefühl der WestberlinerInnen nachhaltiger verändern als die Öffnung der Grenze am 9. November und das Abschaffen des Zwangsumtauschs am 23. Dezember: Am Tag, wenn der „Schutzwall“ fällt, werden wir endgültig „geostet“.

Die Insel West-Berlin wächst seit einem halben Jahr an das Festland DDR heran, wie weiland Lummerland an Atlantis in Michael Endes Buch Jim Knopf und die Wilde Dreizehn. Die mit der Mauer großgewordene Bevölkerung macht seitdem einschneidende Erfahrungen: 1. Jenseits der Mauer gibt es einen Horizont, 2. Hühner, Kühe und Schweine existieren tatsächlich, 3. der Transit ist nun plötzlich zum kurzen Weg in ein real existierendes Umland geworden. Das wurde mit einer Mischung aus Euphorie und Angst erlebt: Vielen jüngeren Berlinern war der ferne Osten näher als der nahe. Aber das überschaubare Leben im Schatten des „Schutzwalls“ ist vorbei. Und den mit dem Rücken zur Wand stehenden Kreuzberger Autonomen wird dieselbe nun auch noch geklaut.

Die Mauer ist das letzte Symbol der alten Ordnung. Ihr Abriß ist überfällig. Trotzdem: Wenn über den pestizidbehandelten Grenzstreifen schon längst Gras gewachsen ist, wird am Abriß der Mauer in den Köpfen der Berliner immer noch gearbeitet werden.

Claus Christian Malzahn