Unter die Erde

■ „Die jüdische Welt von gestern - Text- und Bild-Zeugnisse aus Mitteleuropa“

Alle Abbildungen dieser drei Seiten sind einem einzigen Buch entnommen. Rachel Salamander, die Gründerin der auf Literatur zum Judentum spezialisierten Münchner „Literaturhandlung“, hat es herausgegeben. Neben Beiträgen von Schalom Ben-Chorin, Joachim Riedl, Marcel Reich-Ranicki, Julius Schoeps und dem Vorwort der Herausgeberin, jede Menge kleiner Texte von Theodor W. Adorno - „War etwas an den berühmten zwanziger Jahren daran, so ließ es in diesem Kreis sich erfahren. Wir sind oft wie die wilden Tiere übereinander hergefallen; man kann sich das kaum vorstellen, in einer Rückhaltlosigkeit, die auch vor den schärfsten Angriffen auf den anderen: daß er ideologisch sei oder umgekehrt, daß er bodenlos dächte oder was immer das war, nicht haltgemacht hat, aber ohne daß das der Freundschaft... den leisesten Abtrag getan hätte.“ - bis Stefan Zweig: “... selbst inmitten dieser Welttragödie waren sie (die Juden) die eigentlichen Opfer, überall die Opfer, weil verstört schon vor dem Schlag, überall wissend, daß alles Schlimme sie zuerst und siebenfach betraf, und daß der haßwütigste Mensch aller Zeiten gerade sie erniedrigen und jagen wollte bis an den letzten Rand der Erde und unter die Erde.“ Daneben ein Foto: ein Berg glasloser zertretener Brillen aus Mauthausen.

Das Buch schildert die Jahre 1860-1938. Jede Seite bringt Fakten, Ansichten und Bilder, die man nicht kannte, vergessen oder verdrängt hatte. Z. B. das Adorno-Zitat. Die Schärfe mit der Anders den jungen Adorno geschildert hat, dessen Lust an der sezierenden Kraft seines Intellekts, Adorno hat sie selbst gesehen, sie aber nicht negativ besetzt, sondern als eine Eigenart des Milieus, der jungen Frankfurter Intelligentsia betrachtet.

Gershom Scholems Erinnerungen liefern den Kommentar zu unserem Turnerbild: „Mein Vater war in seiner Jugend in der Berliner Turnerschaft sehr aktiv, also in einer für das Kleinbürgertum der liberalen Periode durchaus repräsentativen Organisation. Auch mehrere Brüder und andere Verwandte gehörten ihr an. Mit dem Aufkommen und Überhandnehmen antisemitischer Tendenzen in der Turnerschaft, vor allem seit den 1890er Jahren, zog er sich auf eine passive Mitgliedschaft zurück, während einer seiner Brüder in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts den ersten jüdischen Turnverein in Berlin mit begründete.“

Selbst da, wo der tödliche Brennpunkt der Entwicklung jener Jahre nicht thematisiert wird, ist er präsent; prägt er die Wahrnehmung des Betrachters auch der harmlosesten Details. Die Schwimmerinnen zeigen nicht den von den Nazis oktroyierten „Gelben Fleck“, sondern stolz ihr Vereinsabzeichen. Ein paar Jahre später gab es in Europa keinen Juden, der nicht diesen Stern hätte tragen müssen, einen Stern, der sie alle nach Auschwitz, Birkenau, Buchenwald, Mauthausen führte.

Nein. Es war nicht der Stern. Es waren die ordentlichen Beamten, die Träger der gesammelten Sekundärtugenden, die dafür sorgten, daß die Fahrpläne ein- und die Kosten der Judenvernichtung niedrig gehalten wurden. Das vorvorletzte Foto zeigt, wie mitten in Berlin unter den Augen von hunderten von interessierten Zuschauern unter Aufsicht von SS und Polizei eine kleine Gruppe zu einem Sammeltransport ins KZ Sachsenhausen gebracht wird.

Die jüdische Welt von gestern, 1860-1938, Text- und Bild -Zeugnisse aus Mitteleuropa, herausgegeben von Rachel Salamander, Bildauswahl und Gestaltung von Christian Brandstätter, 425 Abbildungen in duotone, Verlag Christian Brandstätter, 321 Seiten, 98 DM